Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Anmerkungen eines Sammlers

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt"
(Jorge Luis Borges)

Eigenartigerweise erinnere ich mich genau an diesen 03. Mai 1976: Zusammen mit englischen und deutschen Freunden fuhr ich in einem alten grünen Morris Minor Traveller aus den sechziger Jahren, in dessen Innenraum an den unterschiedlichsten Stellen zentimetergroße Pilze wuchsen, in das romantische Fischerdorf Whitstable an der Ostküste Südenglands. Dort kaufte ich in einer Buchhandlung den kleinen Pressendruck "A dissertation upon roast pig", erschienen 1975 in der Shoestring Press von Ben Sands, gedruckt auf handgeschöpftes Büttenpapier der legendären Chiswick Press. Damit begann die damals bereits vorhandene Leidenschaft des Sammelns, die bis zu diesem Zeitpunkt vor allem Bierdeckel, Fotos von Popstars und Schallplatten umfasst hatte, ihre Richtung drastisch zu ändern. Seitdem sammle ich Künstlerbücher und alte Drucke, mittlerweile fast 30 Jahre. Trotz eines gut dotierten DAAD-Stipendiums war das Geld damals nicht ausreichend, sich die mannigfachen Buchwünsche in den Läden zu erfüllen. Diese Notwendigkeit und die Liebe zu der Romantik alter Orte ließen mich Antiquariate besuchen, in denen der Geruch alten Papiers, der Klang vergangener Namen und Lebensgeschichten und die stille Farbe jahrhundertealter Bilder ein Zeitfenster öffneten in eine unendliche Welt, die für mich real wurde, in der ich mich geborgen fand und in die ich immer wieder eintauchte. Ich erinnere mich an das Bücherdorf Hay-on-Wye an der englisch-walisischen Grenze, das ich Jahre später besuchte und acht Stunden pro Tag in diese für mich lichte Vergangenheit reiste. Dass dazu eine Partnerin gehört, die ähnlich empfindet und den gleichen verqueren Wirklichkeitsbegriff besitzt, versteht sich von selbst.

Zuhause bilden Tausende von Büchern das Universum, in dem ich mich bewege. Obwohl man äußerlich ein ganz normales Leben lebt, mit einem ganz normalen Beruf, beginnt man allmählich zu fühlen, das richtige Leben in der falschen Zeit zu führen. Die intensive Beschäftigung mit Literatur und Kunst ist lange nicht mehr selbstverständlich, immer mehr Kinder haben ernste Probleme mit Lesen und Schreiben, ein Wort wie "library" (Bibliothek) verschwindet aus den Schulbüchern des Gymnasiums. Diskussionen über Literatur und Kunst sind aus dem öffentlichen Fokus gerückt; an deren Stelle treten von der Medienindustrie propagierte Belanglosigkeiten. So wird man im privaten Bereich gelegentlich zum belächelten skurrilen Wesen mit seinen ganz eigenen Schrullen.

Ekkeland Götze, 1948 in Dresden geboren und inzwischen in München lebend, katalogisiert unseren Planeten und dessen Bewohner auf eine für ihn ganz typische Weise: Er legt räumliche und zeitliche Achsen unserer Welt frei, gräbt an ihren markanten Punkten und fertigt mit der gewonnenen Erde Terragrafien, die auch als Buch, in Verbindung mit Text, veröffentlicht werden. Dieser Versuch, die/seine Welt zu ordnen, entspricht auch meiner Vorgehensweise als Sammler. Ist der Kauf eines Künstlerbuches/Buchobjektes zunächst eine intuitive Entscheidung, kann ich dann zumeist sehr schnell feststellen, dass dieses Werk in die Koordinaten meiner persönlichen Welt passt. Thomas Offhaus, derzeit Gotha, lebte einen Teil seines Lebens in München. Dort entstanden die Farbholzschnitte zu dem wunderbaren Künstlerbuch "Vogelmenschen", deren erste Andrucke er mir bei einem Besuch in Fürstenfeldbruck zeigte. Der zugrunde liegende Text von Rimbaud, in dem Raben eine zentrale Rolle spielen, beschäftigt sich auch mit dem Sterben. Hunderte dieser Vögel versammeln sich jeden Frühling im Park vor dem Pflegeheim, in dem meine Mutter seit Jahren sterbenskrank liegt. Literarische Fiktion und zu Ende gelebtes Leben durchdringen sich: Die Fiktion erklärt das, was man intellektuell und emotional nicht mehr fassen und ausdrücken kann. "Ein Buch, für das man ein ganzes Leben braucht, um es zu lesen", sagt Greg Raine sinngemäß in dem Künstlerbuch "Prophetic Book" - Lesen und Schauen, ein Leben lang, um zu verstehen. Dies ist für mich der eigentliche Grund, wie ein Besessener zu sammeln - Altes und Neues - und zu ordnen, um Sicherheit in der eigenen kleinen Welt zu gewinnen. Das Künstlerbuch oder ein altes Buch mit Holzschnitten reflektiert die Wirklichkeit und ist die Wirklichkeit: Es bildet ab, erlaubt Einblicke, aber gleichzeitig auch ist es eine grandiose Schöpfung des Geistes. So hat es mich nie wirklich interessiert, hätte ich es mir leisten können, Bücher von Chagall oder Picasso zu erstehen: zu wenig von dem eigenen gelebten Leben in der eigenen Zeit.

Es ist nur konsequent, dass das Leben mit Büchern auch das Leben mit den Menschen einschließt, die sie in die Welt setzen. Ich erinnere mich an Leipziger Kinder, die Bleiläuse, die voller Leidenschaft ihre liebenswerten Künstlerbücher schneiden, ätzen und zeichnen; ich denke an Guillermo Deisler, den ich leider erst auf seinem Sterbebett kennen lernen durfte und der mit verschwindender Kraft die farbigen Bilder der wenigen Exemplare seines letzten Künstlerbuches "Herbstwind" zeichnete; ich denke an Gerhard Multerer, der auf meine Anregung hin, nach stundenlanger Betrachtung meiner Sammlung, begann, Künstlerbücher herzustellen und mir diese zugleich zuschickte, weil er fürchtete, sie wieder zerstören zu müssen; ich denke auch an Hans Rauh, der Teile seiner gewaltigen Bildproduktion von mehr als 40 Jahren vernichtet, um sie zu neuen Büchern zusammenzufügen. Ich denke an meine Freundin Julia Kissina aus der Ukraine, derzeit Berlin, die ein Multitalent im Geiste Michelangelos ist - die zeichnet, malt, fotografiert, schreibt und sich in Performances darstellt; ich denke aber auch an die Künstler, vor allem in Osteuropa, die ich kennen lernen durfte und die bei den herrschenden Bedingungen des Kunstmarkts wohl nie die Chance bekommen werden, die sie verdienen. All dies Menschen, die in mein Leben traten, es begleiteten bzw. immer noch begleiten oder aber auch wieder verlassen.

Drei unterschiedliche Epochen formten mein Leben und meine Sammlung. Es ist dies zum einen die Zeit der sechziger und siebziger Jahre, später dann die Wendezeit, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte und schließlich Perestroika und Glasnost. Bei allen diesen Perioden handelt es sich um elementare Umbruchszeiten, die sich auch im Buch des Künstlers widerspiegeln: Die plakative freche Ästhetik der Pop Art, die konventionelle Sichtweisen brüskierte, die politische Rolle des Siebdrucks in den 80er Jahren der DDR, der geradezu prophetisch das Ende des alten Staates verkündete, und die Ästhetik der Künstlerbücher des neuen Russland, die scheinbar aus dem Nichts entstanden und die potentiellen Möglichkeiten der gewonnenen Freiheit erahnen lassen. Das Künstlerbuch als Gradmesser gesellschaftlicher, politischer, aber auch persönlicher Verwerfungen erscheint das ideale Instrument zu sein, unsere vernetzte komplexe Welt nicht nur abzubilden, sondern sie ganz einfach zu sein. Damit wird es auch zum Gefäß unserer Befindlichkeiten, Ängste und Träume.

Ich danke allen, die zu dem Gelingen dieser Ausstellung beigetragen haben, vor allem Frau Dr. von Seckendorff und Frau Mundorff, auf die die Flamme der Bücherlust schnell übergesprungen war, den Sponsoren, die die aufwendige Präsentation ermöglichten, dem Publikum, das diesen Lebensspuren interessiert folgt und - last but not least - meiner Frau, die mich auch in schwierigen Phasen meines Sammelns/Lebens unterstützt hat.

Reinhard Grüner, März 2004