Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Zeitgenössische Künstlerbücher aus dem neuen Deutschland

Gedanken zur ostdeutschen Bibliophilie und den Künstlerbüchern der Edition Balance

All the world's a stage,
And all the men and women merely players.
They have their exits and their entrances,
And one man in his time plays many parts ...

(William Shakespeare)

 

Mit dem Niedergang des Tausendjährigen Reiches nach zwölf Jahren im apokalyptischen Schrecken des letzen Kriegsjahres 1945 endete die Geschichte des 1871 in Versailles proklamierten ersten deutschen Nationalstaats. 1945 bedeutete auch den Anfang vom Ende einer gesamtdeutschen Literatur, die immer stärker in den Einflußbereich der beiden größten Besatzungsmächte USA und Sowjetunion geriet und ab 1949, bei der Gründung der BRD und der DDR, eigene konträre Wege in unterschiedlichen politischen Systemen gehen mußte. In der Novemberrevolution des Jahres 1989 kreuzten sich die Wege beider deutschen Staaten wieder, läutete die Durchlässigkeit der Grenzen - im Fall der Berliner Mauer metaphorisch überhöht - deren Ende und den 1990 wiederaufgenommenen Nationalstaat ein. Seit dieser Zeit verstummt die Kritik an der "Staatsliteratur" und "Staatskunst" der ehemaligen DDR nicht, macht man ihnen pauschalisierend den Vorwurf, 40 Jahre lang Handlanger eines totalitäten Unrechtssystems gewesen zu sein. Wenige nur sprechen davon, daß es gerade in den 80er Jahren der DDR außerhalb des öffentlichen Literatur- und Kunstbetriebs mit großer Intensität aufbegehrende junge Künstlerinnen und Künstler gab, deren Intention es nicht war, politische Aussagen zu machen, sondern die ganz einfach ihre schöpferische Freiheit einforderten, was natürlich in einer Diktatur wiederum immens politisch werden muß. Jens Henkels Bibliographie D 1980 D 1989 R. Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften im Eigenverlag erfaßt etwa 300 im Eigenverlag entstandene Buchtitel, darunter 10 Pressen und Editionen, die über einen längeren Zeitraum hinweg unter schwierigsten Bedingungen konsequent ihre Buchprojekte verwirklichten. Darunter finden sich Ulrich Tarlatts und Jörg Kowalskis Edition Augenweide, die Künstlerzeitschrift UNI / vers . Visual and Experimental poetry portfolio des Exilchilenen Guillermo Deisler - die Arbeiten beider Editionen sind im Sackner-Archiv für visuelle und konkrete Poesie in Miami vertreten - , die Voste-Edition Steffen Volmers und Werke zahlreicher weiterer Schriftsteller und Künstler. Wie konnte dieser literarisch-künstlerische Untergrund überhaupt existieren, da die "Abteilung für Kunst, Musik und belletristische Literatur in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur der DDR und die Kulturabteilung im ZK" die ihr vorgelegten Manuskripte zensierten und Druckgenehmigungen aussprachen oder verweigerten? Die jungen Künstler schlugen das System mit seinen eigenen Waffen: Der Text wurde in Serigraphie wiedergegeben, also auf die Ebene der Kunst gehoben und somit Teil des künstlerischen Ausdrucks, wodurch es möglich war, die offizielle Druckgenehmigung zu umgehen. Genau dieses graphische Verfahren verwandten auch die New Yorker Pop Art Künstler Roy Lichtenstein und Andy Warhol in den sechziger Jahren, als sie die künstlerische Qualität des Vulgären feststellten und mit leuchtenden Farben, kühnen Formen und ungewohnten Perspektiven die Kunstwelt Amerikas schockierten. Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen waren natürlich unterschiedlich, die Haltung des Künstlers zur Gesellschaft und ihren Mythen jedoch ähnlich.

Die Vita Henry Günthers, der im September 1990, einige Wochen vor der Wiedervereinigung, im damaligen Ostberlin seine Edition Balance gründete, spiegelt die Brüche deutscher Geschichte augenscheinlich wider. Wie bei anderen Schriftstellern und Künstlern der DDR verlief seine Lebenslinie unter dem Druck der äußeren Verhältnisse nie geradlinig, sondern in Windungen und Abbrüchen: Von 1965 bis 1968 machte er eine Lehre als Motorenschlosser, begann ein Jahr später ein Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule Halle, das er 1974 als Diplom-Lehrer Polytechnik abschloß. Dieses Jahr scheint ein Wendepunkt in seiner Laufbahn gewesen zu sein: Er beginnt Gedichte zu schreiben, wird 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schriftstellerverband der DDR mit dem Spezialgebiet Lyrik, ist von 1988 bis 1989 dort Abteilungsleiter. Seit 1980 arbeitet er zudem als Literaturkritiker, Rezensent und Herausgeber für verschiedene Verlage und Redaktionen. Seit 1978 studiert er am Literaturinstitut Leipzig, das er 1981 mit Abschluß verläßt. Was brachte ihn 1974 dazu - nach zwei abgeschlossenen Ausbildungen im zukunftsträchtigen technischen Bereich - seine neue Existenz auf dem trügerischen Boden schöngeistiger Literatur zu gründen? War es die Erkenntnis mancher Intellektueller seiner Zeit, daß in einem abgeschlossenen Staat, in dem man materielle Ziele nur bedingt erreichen konnte, als letztes Refugium der Selbstverwirklichung die Hingabe an geistige Werte geblieben war? Sicherlich - die herrschende Klasse war bereit, den etablierten Kulturbetrieb finanziell und institutionell zu unterstützen, mehr als dies die Regierungen der Bundesrepublik jemals taten, was eine Entscheidung natürlich erleichterte. Seit 1986 bewegte sich Henry Günther jedoch auch im kulturellen Untergrund, beschäftigte sich mit visueller Poesie und veröffentlichte Beiträge in der Edition Augenweide und im UNI / vers-Projekt außerhalb des öffentlichen Literaturbetriebs. Nach einem kurzem Intermezzo am Berliner Ensemble (1990/91) beginnt er seit 1990 intensiv als Verleger und Buchkünstler zu arbeiten: In Berlin macht er eine Ausbildung als Buchdrucker und Buchbinder in der Edition Sirene und der Firma Rottmann, ein Praktikum im Papierschöpfen und Papierkunst bei John Gerard 1993 und in Ascona 1994 einen Kurs am Centro del bel libro. Das Künstlerbuch spielte im Kulturraum der DDR eine wesentlich größere Rolle als in demokratischen Staaten, konnte es doch allein aufgrund seiner Größe, Auflage und privaten Verbreitung ein Forum für unangepaßte Meinungen sein, das einen Zugriff des Staates schwer machte. Die fünf Bücher, die Henry Günther zwischen 1991 und 1993 veröffentlichte, unterliegen natürlich nicht mehr den Ordnungsmechanismen der untergegangenen DDR, sind aber in ihr verwurzelt. So lautet der Untertitel des 1. Druckes (Das Gleichmaß der Unruhe, 1991) Texte und Grafiken zur veränderten Landschaft und verweist darauf, daß es dem Verleger, den Autoren und Künstlern in diesem Werk darauf ankommt, ihren Standort in diesem neuen Deutschland zu definieren. Das Motto von Heinrich Heine Ich hatte einst ein schönes Vaterland wird zum zentralen Problem einer Generation, die nach vierzig Jahren DDR ihr Vaterland verlor und sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit im alten und im neuen Deutschland stellen muß. Fünfzehn renommierte Autoren, unter ihnen Sarah Kirsch, Gabriele Wohmann, Kerstin Hensel, Valeri Scherstjanoi und Karl Mickel beschäftigen sich mit dieser Frage auf virtuose Weise. Der Text des 3. Druckes Sidonie (1992) stammt von Gabriele Wohmann. In ihm wird eine fiktive deutsche Schriftstellerin vom Auswärtigen Amt eingeladen, bei einem Essen mir drei Frauen von indischen Politikern als Gesprächspartnerin für die drei an kulturellen Dingen interessierten Frauen zu fungieren. Im Verlauf dieses Gesprächs zeigt sich immer wieder die große Unsicherheit der Autorin, die Probleme mit der Etikette, der Mentalität der ausländischen Gäste und der Wahl des richtigen Gesprächsstoffes hat. Als sie das Thema ihrer eigenen Arbeit charakterisieren soll, sagt sie: "Problems between people, you know. Neurotic people." Schließlich stellt sich heraus, daß sie mit dieser Aussage eigentlich über sich selbst spricht: Sie verabscheut schönes Wetter ("Ich bin eine Liebhaberin des Schattens"), leidet an dem Elend in der Welt, das die Inderinnen scheinbar ignorieren ("Natürlich, sagte Sidonie, es würde keinem Verhungernden in Ihrem Land nützen, wenn Sie diesen Teller nicht halb voll zurückgehen ließen") und ist nur scheinbar die erfolgreiche Autorin, für die man sie halten soll; ihre Wohnung ist nicht - wie sie vorgibt - in der noblen Ulmenhof-Allee, sondern in der schäbigen Ulmenhofstraße. In dieser Erzählung kontrastiert Gabriele Wohmann die von neurotischen Leiden geplagten Menschen im hochindustrialisierten Europa mit den selbstzufriedenen Angehörigen der herrschenden Kaste armer Entwicklungsländer und stellt damit auch indirekt die Frage, was denn nun eigentlich das Glück wirklich ausmache. Der 4. Druck der Edition Balance - Kants Affe. Ein Todtengespräch (1993) von Karl Mickel ist zeitlich im 18. Jahrhundert lokalisiert und beschreibt ein wüstes Streitgespräch zwischen den beiden extremen Polen dieses Jahrhunderts - Immanuel Kant, dem theoretischen Protagonisten der Aufklärung und dem adligen Wüstling und Pornographen Marquis de Sade. Mickel kontrastiert damit zwei Lebensformen - die des vernunftbestimmten Rationalisten, der sich der Verantwortung, sein Leben nach der Verneinung göttlicher Allmacht in die eigenen Hände zu nehmen, stellt und dabei die Grenze zum Nächsten nicht antastet und die des Zynikers, der von der Schlechtigkeit des Menschen überzeugt ist, die absolute Freiheit des Individuums fordert und in seinen Schriften die Verworfenheit des Fin du Siècle aufzeigt. Die Texte zum 2. Druck Ausflocken (1992) und 5. Druck Hans Hiob (1993) stammen von dem jungen Berliner Dichter Johannes Jansen, dessen Spracheruptionen in Verbindung mit veränderter Punktuation, falsifizierter Grammatik und konsequenter Kleinschreibung in dem Band Ausflocken eines der dichtesten Bilder vom Leben im Sozialismus darstellen.

Die am häufigsten verwendeten graphischen Techniken in den fünf Drucken der Edition Balance sind Siebdrucke und Radierungen, die im 1. und 3. Druck gemeinsam im Buch erscheinen, ansonsten getrennt voneinander. Henry Günther knüpft damit an die graphische Konvention der DDR an, die er mit der komplizierten Technik der Radierung verbindet und erweitert, dadurch mit der "Bibliophilie der Armut", die manchen DDR-Pressen eigen war, bricht und seine Drucke in die lange Tradition hervorragend ausgestatteter Pressendrucke und Künstlerbücher einreiht. Im 2. Druck wird das ästhetische Empfinden noch gesteigert, da es sich bei den Bildern von Wolf Spies um Originalzeichnungen handelt, die jedes der 35 Exemplare zu einem Unikat machen. Dennoch begeht Henry Günther nicht den Fehler, nur ganz einfach ein schönes Buch produzieren zu wollen, bei dem ein zumeist vielfach publizierter Text, auf den keine Rechte mehr bestehen, nur Anlaß ist, schön gedruckt, schön illustriert und schön gebunden zu werden. Bei den Texten der Edition Balance handelt es sich grundsätzlich um Erstveröffentlichungen. Alle diese Texte sind kritisch, unbequem, manche sogar sperrig, weit von dem entfernt, was viele Bibliophile in ihrem Refugium gerne lesen würden. Aber welche Berechtigung haben andere Texte in einer krisengeschüttelten Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint? Die Bilder zu den Texten - und auch dies ist typisch für die Drucke der Edition Balance - beziehen in drei von fünf Drucken die Worte in das Bild ein, d.h. das Wort wird letztendlich zum Bild, das Bild zum Wort. Im Buch Sidonie stellt Guillermo Deisler in seinen Radierungen und Siebdrucken das Spannungsgeflecht zwischen den Personen, die Personen selbst, in nervösen, fahrigen Strichen dar; die gleichen Striche schreiben aber auch den Text in die Bilder; einen Text, der immer stärker seinen Schriftcharakter, seine Sinnhaftigkeit verliert, unleserlich wird und zum Bild mutiert, bis schließlich Schrift und Bild die gleiche Struktur besitzen. Diese Transformation transportiert das Wort in den Bereich des Bildes und öffnet es so anderen Bewußtseinsebenen. Johannes Jansen, der im 5. Druck seinen eigenen Text bebildert, folgt diesem Prinzip. Nur konstituieren die Buchstaben hier einen Kopf, in dem die Welt der Bilder und Worte abläuft, der arcimboldesk zum Spiegel einer Geographie der Seele wird. Die Struktur der Linien ähnelt CAD-Graphiken, was die Siebdrucke zudem in die imaginäre Welt der "virtual reality" verweist. Die Bilder in den Büchern der Edition Balance erzählen also ganz eigene Geschichten, die zwar auf dem Text basieren, ihn sogar in die Gestaltung einbeziehen, aber dennoch ihre Eigenständigkeit bewahren. Und so hat es selbst für den, der der deutschen Sprache nicht mächtig sein sollte, Sinn, sich mit diesen Buchkunstwerken zu beschäftigen, da sich jeder Band verschiedenen Betrachtungsweisen öffnet und Botschaften vermittelt, die die Grenzen des Sprachlichen mit Vehemenz und Leidenschaft durchbrechen - Geschichten ohne Sprache.

Reinhard Grüner