Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Weiter Balance halten! Ein Blick zurück nach vorne

Hätte er es sich jemals träumen lassen, dass seine Erfindung das Feuer der Religionskriege auflodern lassen würde, dass sie Kaiserreiche beenden und die grauenvollste Vernichtung menschlichen Lebens in der deutschen Geschichte sogar durch die Hand der Täter minutiös festhalten würde? Hätten wir uns jemals vorstellen können, dass eine kleine, in der Aktentasche mitgeführte Box in Sekundenbruchteilen weltweite Kommunikation und Datentransfers ungeheuren Ausmaßes bewerkstelligen würde? Aber wagen wir uns auch vorzustellen, ob dieser immer rasanter fortschreitende Prozess der Digitalisierung das Ende der - wie es McLuhan in den sechziger Jahren nannte - Gutenberg-Galaxis mit sich bringt und damit einhergehend auch das Sterben traditioneller Techniken der Buchherstellung, die auch heute noch von nicht wenigen Buchmachern und Buchkünstlern gepflegt werden?

Am Beispiel der Edition Balance in Gotha soll u. a. eine Annäherung an die zuletzt gestellte Frage versucht werden. 1990, in den unwägbaren Zeiten der deutschen Wiedervereinigung, als mehr als nur ein Lebenslauf jähe Brüche und Sprünge durchlief, gründete der ehemalige Motorenschlosser, Diplomlehrer für Polytechnik, Lyriker, Absolvent des Literaturinstituts Leipzig und Mitarbeiter im Schriftstellerverband der DDR, Henry Günther, in Berlin die Edition Balance. Zehn Jahre danach blickt die Edition auf zwölf aufwendige Drucke zurück, verlagert sich geographisch in das thüringische Städtchen Gotha, aber oszilliert mit ihren Ausstellungen zwischen Gotha, Sonneberg, Leipzig, München, Nürnberg, Berlin, Wien und immer wieder New York - im Center for Book Arts (schon 1994), auf der 2nd ArtistBook International in den Waldorf Astoria Towers (1995) und im Frühjahr 2000 in der Cencebaugh Contemporary, mitten in Manhattan. Ein steiler Aufstieg, wenn man das so sagen darf. Begründet dadurch, dass der Editeur Schriftsteller und Künstler zusammenführt, die Künstlerbücher schaffen, welche durch ihre kompromisslose Qualität und bei aller Unterschiedlichkeit durch ihre konsequente Einheitlichkeit überzeugen und sicher auch deshalb in den größten Sammlungen, wie - um nur wenige zu nennen - der Sächsischen Landesbibliothek, Bayerischen Staatsbibliothek München, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hochschule für angewandte kunst wien, The British Library London, Victoria and Albert Museum London und San Francisco Public Library, zu finden sind. Literarische Erstdrucke von Durs Grünbein, Kerstin Hensel, Johannes Jansen, Friederike Mayröcker, Karl Mickel, Yoko Tawada und Gabriele Wohmann werden kongenial umgesetzt durch zumeist junge Künstler wie Angela Hampel, Helge Leiberg, Carsten Nicolai, Thomas Offhaus, Nuria Quevedo, Sabine Cornelia Sauermilch und Wolf Spies. Genau dies macht die Faszination der Edition Balance aus. Es wird offensichtlich keinerlei Wert darauf gelegt, einen copyrightfreien Text zum wiederholten Male zu reproduzieren und weniger als das perfekte Buch zu schaffen.

Die gediegene handwerkliche Herstellung der Bücher, die höchsten Qualitätskriterien standhalten, findet im eigenen Atelier Buchkunst statt. Aber haben diese Kunstwerke in Kleinstauflagen von 35 bzw. 50 (gelegentlich 100, nur einmal 200) Exemplaren in einer Zeit, in der es - wie eingangs angesprochen - nur noch darauf ankommt, möglichst viel Information schnell und billig zu speichern, zu verarbeiten und weiterzuverbreiten, überhaupt noch eine Zukunft, oder sind sie der Mode unterworfene Luxusgüter, die irgendwann nicht mehr den gewünschten Reiz auslösen und achtlos beiseite geschoben werden?

Henry Günther ist sich all dieser Probleme bewusst und setzt Lösungsstrategien ein, die den Anforderungen des beginnenden dritten Jahrtausends gerecht werden. Die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Arbeit sind international geworden - schon 1995 entstand in New York, während der 2nd ArtistBook International das unikate Malerbuch New York mit Arbeiten von Johannes Jansen, Carsten Nicolai, H. H. Grimmling, F. M. Furtwängler, Thomas Günther und Wolf Spies, das sich inzwischen im Besitz des Klingspor-Museums befindet. Hätte man die Lust daran, ein Buch in New York zu machen, noch abtun können mit dem Reiz und den damit verbundenen Versprechungen, die das exotische New York auf junge deutsche Künstler wohl immer ausübt, bemerkt man bei den darauffolgenden Büchern der Edition, dass diese Internationalität inzwischen zum Programm wurde. Ein Jahr nach der New-York-Episode veröffentlichte Henry Günther Friederike Mayröckers Text Liebesbekümmernis durch Buchenecken hindurch mit acht Steindrucken des jungen Wiener Zeichners Tobias Raphael Pils. 1999 erschien der Text 13 der japanischen Autorin Yoko Tawada in einer zweisprachigen Ausgabe, japanisch gebunden und in traditioneller Kassette. Last but not least beginnt Henry Günther im zehnten Jahr des Bestehens der Edition mit der Balance Press eine zweite Edition. Auch hierbei handelt es sich um literarische Erstausgaben, die durchwegs zweisprachig herausgegeben werden. Der erste Band dieser Reihe nennt sich UPTOWN 99 - Homage an Allen Ginsberg und der zweite - ein Text von Volker Braun mit Grafiken von Thomas Offhaus - Lyotard oder Die Leute lassen sich alles erzählen. Damit unterläuft Henry Günther die Konventionen des zumeist einsprachig und regional definierten Künstlerbuches und öffnet sich einem weltweiten Publikum zwischen Berlin, Wien, New York und Tokio. Es seien an dieser Stelle auch die für die Edition typischen formalen Experimente erwähnt, denen sich Henry Günther von Anfang an zuwendet. Schon beim zweiten Druck finden sich zehn Originalzeichnungen von Wolf Spies, im achten Druck Originalzeichnungen und Collagen desselben Künstlers. Im zehnten Druck wird der Text Yoko Tawadas von sich verdichtenden und dabei immer fragiler werdenden Ausstanzungen Carsten Nicolais begleitet und im darauffolgenden Band verbindet Helge Leiberg virtuos die Technik des Steindrucks mit der der Radierung. In der Balance Press schließlich - dies kündigt Henry Günther in seinem Prospekt zur Frankfurter Buchmesse 1999 programmatisch an - sollen traditionelle und digitale Medien umgesetzt werden - UPTOWN 99 beispielsweise enthält Holzdrucke, Prägungen und Stanzungen unter Verwendung von Fotografien. Der Eindruck verstärkt sich, dass die Edition neben der inhaltlichen Neuorientierung immer häufiger das formale Experiment sucht und auch hier mit Konventionen bricht.

Dass Internet und Buch sich ausschließen, dass das eine sogar den Todesstoß für das andere bedeutet, dieser Glaubenssatz gilt für Henry Günther nicht. Ganz im Gegenteil - das World Wide Web bietet die Möglichkeit, auch das Produkt Künstlerbuch weltumspannend zu präsentieren. Eine eigene Homepage (www.edition-balance.de) ist für die Edition selbstverständlich, zusätzlich soll unter www.artistbook.de ein internationales Forum der modernen Buchkunst entstehen. Zusammen mit den bereits bestehenden Links zu Händlern in Europa und Amerika (z.B. www.artistsbooks.com und HellerBkDC@aol.com) hat sich so in den letzten Jahren ein Netz entwickelt, welches das Medium Künstlerbuch von jeglicher Mode unabhängig macht und die Kleinstauflagen genau zu den Sammlern und Museen bringt, die Emotionalität und Feinsinnigkeit genug besitzen, sich jenseits von Massengeschmack und Meinungsmache der Massenmedien für diese komplexe Kunstform zu interessieren und zu engagieren.

Vergessen wir aber trotzdem nicht, dass alle Bücher dieser Edition Produkte von ganz persönlichen Leidenschaften sind, in denen sich auch Henry Günther und Marion Günther-Bonsack widerspiegeln. Veröffentlichte Henry Günther in Das Gleichmaß der Unruhe eigene Texte noch unter Pseudonym, macht er sein Langgedicht Uptown 99 sogar zum Startpunkt einer neuen Reihe. Und auch Marion Günther-Bonsack zeigt in ihrer vibrierend sinnlichen Gedichtsammlung AUGEN BLICKE mit den reduzierten Steindrucken Sabine-Cornelia Sauermilchs, die dem Text ausreichend Platz zum Atmen lassen, deutlich auf, worum es der Edition im Eigentlichen geht: um die Liebe zum Wort und zum Bild, also auch um die Liebe zum Menschen.

Reinhard Grüner