Wanderer zwischen den Welten
Notate zur ironischen Verfremdung in den Arbeiten
des Hartmut Andryczuk
In dem 1995 in der Edition Augenweide
erschienenen Künstlerbuch para Guillermo, das dem inzwischen
verstorbenen Exil-Chilenen Guillermo Deisler gewidmet ist, betitelt
Hartmut Andryczuk seinen Essay "AUS DEN AUFZEICHNUNGEN HEIMATVERTRIEBENER
S E E L E U T E". In einer sehr sensiblen Hommage ehrt
er damit einen Künstler, der in dem abgeschlossenen System
der DDR ein weltweites Netz spannte, das die unterschiedlichsten
Künstlerhandschriften verknüpfte, miteinander kommunizieren
ließ und so Künstlern ein Forum bot, lange bevor das
Internet globale Kommunikation für die Massengesellschaft ermöglichte.
Hartmut Andryczuk war einer der Künstler, die sich an diesen
Projekten Guillermo Deislers beteiligten, da diese seinem eigenen
Verständnis von der Funktion moderner Kunst sehr nahe kamen.
Seit 1989 gibt er die Zeitschrift Teraz Mowie - Hefte für
Visuelle Poesie + Verbale Kunst heraus, in der sich Autoren
und Künstler wie Guillermo Deisler, Ilse und Pierre Garnier,
Boris Konstriktor, Jörg Kowalski, Rea Nikonova, Valeri Scherstjanoi,
Ulrich Tarlatt und Ottfried Zielke - um nur einige zu nennen - Gedanken
machen zur Welt des Bildes und der Sprache. Die Originalarbeiten
der Künstler werden von Andryczuk kopiert, gefaltet und geklammert.
Dem traditionellen Kunstsammler, der eine Künstlerzeitschrift
nach Einband, Papierqualität, Satzspiegel, Anzahl der Originalgraphiken
usw. beurteilt, ist dieses Heftchen sicherlich ein Greuel. Doch
bedient sich Andryczuk dieser Strategie bewußt: In einer Zeit,
in der manch teuer gehandelter Künstler seine Preise nach Quadratzentimetern
berechnet, macht er das Abbild der Kunst zum Kunstwerk. Dieses Produkt
nennt er dann Teraz Mowie, was der Interpret mit Mühe
zu dechiffrieren versucht. Ist es der lautmalerische Verweis auf
"terra" und "movie", auf den Film möglicherweise,
in dem wir auf unserer Erde alle Statisten sind? Nichts von alledem,
denn Teraz Mowie kommt ganz einfach aus dem Polnischen und
meint "Ich spreche."
Die Verfremdung des Wortes und des
Bildes ist ein Wesenszug in der Arbeit Andryczuks. 1994 erschien
in seinem Verlag die Kassette Neue Miniaturen, die je zehn
Postkartenübermalungen des St. Petersburger Künstlers
Boris Konstriktor und zehn eigene enthielt. Unikate Originalübermalungen,
wohlgemerkt, montiert auf wertvolles Papier und gesammelt in einer
flaschengrünen stabilen Kassette - Gesamtauflage fünf
Stück. Da tummeln sich überdimensionierte Vögel,
zähnefletschende hundeähnliche Wesen, fliegende Schlangen
und bunte Extraterrestrische in ganz konventionellen Bildinhalten:
Landschaften im Winter, in den Bergen und am Abend, Venedig, Blumenstilleben,
ein vergnüglich dreinschauender Mecki. Im Wasser vor den Kreidefelsen
bei Sassnitz auf Rügen bewegt sich ein überproportioniertes
Fischwesen. Caspar David Friedrichs Romantik wird durch Ironisierung
verfremdet und gewinnt ihre neue Wirklichkeit. Immer wieder leitet
Andryczuk seine Figuren aus den vorhandenen Bildelementen ab - so
wird ein vertikal wachsender Baum auf einer querformatigen Karte
zum Bestandteil eines Menschenwesens auf dem zum Hochformat gedrehten
Kunstwerk. Die Spannung zwischen Bekanntem, manchmal auch Trivialem,
und der künstlerischen Replik darauf macht Andryczuks Arbeiten
zu ironischen Kommentaren auf das Eindringen des Surrealen in unsere
geordnete Welt. Und es bereitet immer wieder aufs neue Lust, sich
mit diesen Chimären zu beschäftigen - sind sie doch witzig
und voller Hintersinn. "Cosmographic poetry" bezeichnet
dies der Künstler auf einem bemalten und bestempelten Briefumschlag
mit einer Marke aus der ehemaligen Tschechoslowakei, "Hybriden-Verlag"
heißt der 1993 gegründete Verlag. Muß man zur Kosmographie
des Hartmut Andryczuk noch mehr sagen?
Reinhard Grüner
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