Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Wanderer zwischen den Welten

Notate zur ironischen Verfremdung in den Arbeiten des Hartmut Andryczuk

In dem 1995 in der Edition Augenweide erschienenen Künstlerbuch para Guillermo, das dem inzwischen verstorbenen Exil-Chilenen Guillermo Deisler gewidmet ist, betitelt Hartmut Andryczuk seinen Essay "AUS DEN AUFZEICHNUNGEN HEIMATVERTRIEBENER  S E E L E U T E". In einer sehr sensiblen Hommage ehrt er damit einen Künstler, der in dem abgeschlossenen System der DDR ein weltweites Netz spannte, das die unterschiedlichsten Künstlerhandschriften verknüpfte, miteinander kommunizieren ließ und so Künstlern ein Forum bot, lange bevor das Internet globale Kommunikation für die Massengesellschaft ermöglichte. Hartmut Andryczuk war einer der Künstler, die sich an diesen Projekten Guillermo Deislers beteiligten, da diese seinem eigenen Verständnis von der Funktion moderner Kunst sehr nahe kamen. Seit 1989 gibt er die Zeitschrift Teraz Mowie - Hefte für Visuelle Poesie + Verbale Kunst heraus, in der sich Autoren und Künstler wie Guillermo Deisler, Ilse und Pierre Garnier, Boris Konstriktor, Jörg Kowalski, Rea Nikonova, Valeri Scherstjanoi, Ulrich Tarlatt und Ottfried Zielke - um nur einige zu nennen - Gedanken machen zur Welt des Bildes und der Sprache. Die Originalarbeiten der Künstler werden von Andryczuk kopiert, gefaltet und geklammert. Dem traditionellen Kunstsammler, der eine Künstlerzeitschrift nach Einband, Papierqualität, Satzspiegel, Anzahl der Originalgraphiken usw. beurteilt, ist dieses Heftchen sicherlich ein Greuel. Doch bedient sich Andryczuk dieser Strategie bewußt: In einer Zeit, in der manch teuer gehandelter Künstler seine Preise nach Quadratzentimetern berechnet, macht er das Abbild der Kunst zum Kunstwerk. Dieses Produkt nennt er dann Teraz Mowie, was der Interpret mit Mühe zu dechiffrieren versucht. Ist es der lautmalerische Verweis auf "terra" und "movie", auf den Film möglicherweise, in dem wir auf unserer Erde alle Statisten sind? Nichts von alledem, denn Teraz Mowie kommt ganz einfach aus dem Polnischen und meint "Ich spreche."

Die Verfremdung des Wortes und des Bildes ist ein Wesenszug in der Arbeit Andryczuks. 1994 erschien in seinem Verlag die Kassette Neue Miniaturen, die je zehn Postkartenübermalungen des St. Petersburger Künstlers Boris Konstriktor und zehn eigene enthielt. Unikate Originalübermalungen, wohlgemerkt, montiert auf wertvolles Papier und gesammelt in einer flaschengrünen stabilen Kassette - Gesamtauflage fünf Stück. Da tummeln sich überdimensionierte Vögel, zähnefletschende hundeähnliche Wesen, fliegende Schlangen und bunte Extraterrestrische in ganz konventionellen Bildinhalten: Landschaften im Winter, in den Bergen und am Abend, Venedig, Blumenstilleben, ein vergnüglich dreinschauender Mecki. Im Wasser vor den Kreidefelsen bei Sassnitz auf Rügen bewegt sich ein überproportioniertes Fischwesen. Caspar David Friedrichs Romantik wird durch Ironisierung verfremdet und gewinnt ihre neue Wirklichkeit. Immer wieder leitet Andryczuk seine Figuren aus den vorhandenen Bildelementen ab - so wird ein vertikal wachsender Baum auf einer querformatigen Karte zum Bestandteil eines Menschenwesens auf dem zum Hochformat gedrehten Kunstwerk. Die Spannung zwischen Bekanntem, manchmal auch Trivialem, und der künstlerischen Replik darauf macht Andryczuks Arbeiten zu ironischen Kommentaren auf das Eindringen des Surrealen in unsere geordnete Welt. Und es bereitet immer wieder aufs neue Lust, sich mit diesen Chimären zu beschäftigen - sind sie doch witzig und voller Hintersinn. "Cosmographic poetry" bezeichnet dies der Künstler auf einem bemalten und bestempelten Briefumschlag mit einer Marke aus der ehemaligen Tschechoslowakei, "Hybriden-Verlag" heißt der 1993 gegründete Verlag. Muß man zur Kosmographie des Hartmut Andryczuk noch mehr sagen?

Reinhard Grüner