WAGGON - EIN DEUTSCH-RUSSISCH-UKRAINISCHES
KÜNSTLERBUCH
Diktaturen zerstörten eine fruchtbare
Beziehung. Stalins Doktrin des Sozialistischen Realismus und Hitlers
nationalsozialistischer Bildersturm gegen die Moderne der Avantgarde
beendeten, was gewachsen war. Dabei hatten bildende Kunst, Photographie,
Architektur, Theater, Literatur, Musik und Film bis etwa 1930 im
regen Austausch gestanden. Russische Künstler konnten 1922
in Berlin ausstellen, die deutsche Avantgarde ihrerseits 1924 in
Moskau. Zahlreiche Ausstellungen jüngeren Datums zeigten die
Bedeutung der russischen Kunst in den ersten drei Dekaden des 20.
Jahrhunderts und ihr Fortwirken („Berlin-Moskau / Moskau-Berlin",
„Paris-Moskau / Moskau-Paris", d.R.).
Die langjährige Diktatur konnte
die Macht des Bildes und des geschriebenen Wortes bis heute nicht
brechen. So wundert es nicht, daß gerade die russische Kunstgeschichte
reich ist an Werken futuristischer und konstruktivistischer Buchkunst,
an Werken des Jugendstils und solchen in der Tradition der altrussischen
Bilderbögen. Drei Jahrzehnte lang schrieb man damals Maßstäbe
für eine europäische Kunst fest, die weitere sechzig Jahre
im Untergrund dahinvegetieren mußte. Erst seit etwa fünf Jahren
ist es für die jungen Künstler in Moskau und St. Petersburg
möglich geworden, an die große gemeinsame Tradition im
ersten Drittel dieses Jahrhunderts öffentlich wieder anzuknüpfen
und sie mit kulturellen Strömungen anderer Länder zu verschmelzen.
Das erste Künstlerbuch, das
dies im großen Stil versucht, erschien 1995 als 20. Druck
der Edition Augenweide im ostdeutschen Bernburg. Das großformatige
Werk in einer Auflage von fünfzig Verkaufsexemplaren wurde
von ostdeutschen und westdeutschen, russischen und ukrainischen
Künstlern in zweijähriger Arbeit gestaltet. Grundprinzip
bei der Entwicklung des Buchkonzeptes war die völlige künstlerische
Freiheit der Beteiligten, die nur formale Vorgaben enthielten. Jeder
Künstler mußte Texte aus dem anderen Sprachraum wählen
und diese bildlich umsetzen.
Schon vor der politischen Wende in
der Sowjetunion waren osteuropäische Künstler über
die Grenzen hinaus bekannt und gewürdigt und werden heute in
Standardwerken wie dem Uzercher Katalog „Livres d'Artistes
Russes et Sovietiques 1910-1993" in einer Reihe mit El Lissitzky,
Malevitch und Rodtchenko genannt. Sie haben ihre ganz eigene Sicht
der Dinge, die an Traditionen und Denkweisen anknüpft, die
besonders im westlichen Teil Deutschlands immer noch unbekannt sind
- an Traditionen, die auch jahrzehntelange politische Indoktrinierung
nicht abtöten konnte, sondern vielmehr sogar beforderte: den
künstlerischen Infantilismus Julia Kissinas, die gerne Kinderbücher
zitiert, den Futurismus in der russischen Buchkunst, den Michail
Karasik in seinen originalgraphischen Büchern mit Collagen
und Verfremdungen weiterführt, die Hommage Oleg Dergatchovs
an die Werke der großen russischen Dichter, die er mit seinen
Graphiken kommentiert und schließlich Tishkovs ganz persönliche
und auf seine Epoche bezogene Mythologie.
Auch jeder der deutschen Künstler
entfaltet seine charakteristische Bildwelt als Antwort auf die Texte
des anderen Landes: das Zeichenhafte der Graphiken Beate Kameckes,
mit dem sie auf die Chiffren von Daniil Charms reagiert, das Tiefsinnig-Grüblerische
Christian Riebes, die leise Melancholie der Arbeiten Anette Groschopps
und schließlich die schmunzelnde Satire Ulrich Tarlatts auf
den Gedankenflug des Suffs.
Ganz im Sinne des Futurismus werden
nicht nur die russischen/ukrainischen Texte kalligraphisch wiedergegeben,
sondern auch die der deutschen Künstler. Das Wort als Bild
und das Bild als Geschichte ist wesentliches Strukturmerkmal dieses
Künstlerbuchs. Prinzipiell ist jedem Text ein Bild zugeordnet,
aber natürlich kann und soll der Leser diese Ausschließlichkeit
durchbrechen. Durch den geteilten Buchblock ist es möglich,
zahlreiche neue Kombinationen zwischen dem oberen und unteren Buchteil
zu schaffen; eine Vielzahl von Variationen machen den Leser so zum
Schöpfer immer wieder neuer Bild- und Textwelten. Der metaphorische
Buchtitel „Waggon" bringt dieses Spiel zwischen Autor,
Künstler, Leser und Betrachter genau auf den Punkt. Natürlich
ist dies mehr als nur ein Spiel, da der Grad seiner Intensität
die Tiefe des Verständnisses für die Kultur des anderen
Landes bewirkt. Und genau dies war der Anreiz für die Durchführung
des Buchprojektes: Man wollte in einer Zeit des immer wieder aufbrechenden
Fremdenhasses und der Intoleranz ein Zeichen setzen für Annäherung
und Akzeptanz in der Hoffnung, daß vierzig Bilder und vierzig
Texte Anlaß sind zur Besinnung und zum Gespräch und auch
dazu anregen, mehr voneinander wissen zu wollen.
Reinhard Grüner |