Das Ende der Utopie?
Gedanken zu einigen Künstlerbüchern der burgart-presse
"Wer trägt diese Revolution?
Welche Ideen und welche Generation? ... Reife Menschen sind unter
den Protestierenden, fordern ihr gestohlenes Leben ein. Wir sind
das Volk. Welch ein Gewicht, wenn sie das sagen. Bedacht ist im
Spiel, Würde. Eine solche Dimension läßt sich nicht
aus der Geschichte prügeln. Nur: das gestohlene Leben ist verloren.
Die Schuldner werden gehen. Und die Betrogenen bleiben zurück:
mit leeren Händen."
14. November 1989 ist der
oben zitierte Text Harald Gerlachs aus dem Buch Einschlüsse.
Aufbrüche. Blätter zu sechs Monaten deutscher Geschichte,
dem vierten Druck der burgart-presse Rudolstadt, betitelt. Erschienen
im Jahre 1991, enthält dieses Werk Tagebucheinträge und
Gedichte zwischen Oktober 1989 und März 1990, die die revolutionären
politischen und sozialen Veränderungen in nur sechs Monaten
deutscher Geschichte reflektieren. Es ist also ein politisches Tagebuch,
das aber weit über die Fixierung des Alltäglichen und
unmittelbar Erlebten hinausgeht, da es die Frage stellt nach dem
Warum und dem Wohin. Durch den Rückgriff auf das Demokratieverständnis
der frühen attischen Polis, in der der öffentliche Diskurs
der Staatsform immanent war, durch die Erwähnung Brechts, der
in der zweiten Fassung seines Leben des Galilei die Verantwortung
des Einzelnen für das Wohl der Menschheit thematisiert, und
schließlich durch die Zitierung Immanuel Kants, der den Ausgang
aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit forderte, verknüpft
der Schriftsteller Harald Gerlach die demokratischen Momente europäischer
Geschichte mit den jüngsten Ereignissen des Deutschen November.
Der "Gedanke einer Revolutionierung menschlichen Bewußtseins"
(14. November 1989) hat sich nach über vierzig Jahren
durchgesetzt und der Schlaf der Vernunft sein Ende gefunden. Eine
der ergreifendsten Metaphern dazu stammt aus dem Gedicht Angelus
Novus. Während in Benjamins Text jedoch das Vokabular eines
Vernichtungsszenarios dominiert, gibt Gerlach der Hoffnung auf eine
zwar ungewisse, aber doch demokratische Zukunft Ausdruck: "Der
Engel der Geschichte / montags auf dem Opernplatz / spricht sächsisch.
Die geschleifte / Unikirche läutet ihre / eingeschmolznen Glocken."
Auch das der Vorzugsausgabe beigebundene handgeschriebene Gedicht
Die Saale greift das Thema Hoffnung in der vielschichtigen
Bildlichkeit des Flußtopos auf: "... in den Bleichwiesen
/ wendet der Wind das verschwitzte / Hemd der Lichtgestalt Hoffnung."
Die dem Buch beigegebenen Bilder des Künstlers Alfred Traugott
Mörstedt haben nur auf den ersten Blick nichts mit der politischen
und sozialen Brisanz der Tagebucheintragungen gemein, doch überaus
subtil gehen sie durch ihr ganz eigenes Regelwerk mit dem Text um:
Die Einschlüsse und Aufbrüche deutscher Geschichte, die
dem Buch auch den Titel geben, finden ihre Analogie in den räumlichen
und den dadurch bedingten zeitlichen Strukturen der Grafiken. Ihre
differenzierte Geometrie, die aufgrund der selten gewordenen Technik
der Handkolorierung an erstaunlichen räumlichen Dimensionen
gewinnt, gibt dem Buch eine Zeitlosigkeit, die eine kurze Epoche
deutscher Geschichte zum Paradigma werden läßt.
Im gemeinschaftlichen Künstlerbuchprojekt
ABC - Drucksachen, dem im Jahre 1993 erschienenen fünften
Druck der burgart-presse, knüpfen Wolfgang Henne und Steffen
Volmer an die alte Tradition der ABC-Bücher an, die ursprünglich
dem Erlernen des Alphabets dienten, sich aber in den letzten 150
Jahren immer mehr zum pädagogischen Kinderbuch entwickelten
und in ihrer typischen Ausformung der englischen Nonsens - Alphabete
für die beiden Künstler aus Leipzig und Chemnitz interessant
wurden. Hennes einleitender Text bedient sich der Begriffe der medizinischen
Fachsprache, die er mit sinnlosen Neologismen erweitert, um so ein
Konstrukt zu schaffen, das in sich wiederum die wissenschaftliche
Terminologie ad absurdum führt. Die darauffolgenden Texte zu
jedem Buchstaben des Alphabets, von den Künstlern im Wechsel
verfaßt, führen zum einen diese absurden Wortspiele im
Sinne der englischen Tradition fort, zum anderen aber leuchten in
ihnen die Mißstände der modernen Industriegesellschaft
auf. Was den Autoren/Künstlern sicher fern liegt, ist der
Versuch, belehren zu wollen. Sie wollen vielmehr den Finger auf
die Wunde legen und sich mit diesem neuen Deutschland auseinandersetzen.
Die über dreißig (!) wild wuchernden (zum Teil ausklappbaren
und geprägten) Originalgraphiken (Siebdrucke, Linolschnitte
und Lithografien) dieses monumentalen Werks sind zu verstehen als
bildliche Spiegelungen des Wortes, die die Absurdität von Wort
und Welt weiterführen. "Hand in Hand, doch händeringend
vollendet sich die Handlung in mühsamer Handarbeit zum Handstreich.
Gezeichnet die Hände im Handschlag der Handlanger" lauten
die ersten Zeilen zum Buchstaben H, dessen darauffolgende Grafik
das Thema Hände erneut aufgreift.
Utopia nennt Harald Gerlach
eines der Gedichte in Einschlüsse.Aufbrüche
und weist damit auf einen literarischen und historischen Topos hin,
der die Menschheit seit Jahrhunderten fasziniert. Das sozialistische
Experiment, eine der letzten Utopien der Moderne, dessen klägliches
Scheitern aufgrund theoretischer Insuffizienz und menschlicher Machtgeilheit
wir in den letzten Jahren miterleben mußten, ist auch Thema
von Gerlachs Buch. Als mit dem Ende der DDR die Mauer fällt,
fällt damit gleichzeitig die schützende Abgrenzung, die
schon zu Zeiten des Thomas Morus den "idealen Staat" von
den "barbarischen" Nachbarn trennte. Und genau in dem
Augenblick, in dem sich der für Utopien charakteristische Inselcharakter
auflöst, verschwindet auch die geschlossene Gesellschaft mit
ihrem für sie typischen Regelsystem. In seinem Gedicht Utopia
beschreibt Gerlach den Gegensatz zwischen idealem Wunsch und realer
Wirklichkeit folgendermaßen:
"Um die Gipfel kreisen
die Adler. Und mein Traum wies
im Lande ein Feld: Republik
der Gelehrten. Dort, Diotima,
laß uns sein. ...
DRINK COCA COLA LIGHT!
So kam ich unter die Deutschen. Handwerker
fand ich ... Allianzversichert."
Wie bereits erwähnt, knüpfen
Henne und Volmer in ihrem Buch an die Tradition des sprachlichen
Dadaismus an - sie zerbrechen sprachliche Konventionen, schaffen
neue Sinnzusammenhänge und betonen die onomatopoetische Wirkung
des Wortes. Gehen wir jetzt zurück zur Utopie und definieren
die Rolle, die Sprache in ihr spielt: Sie ist das Machtinstrument
per se, das besser noch als die Macht der Schwerter die Menschen
kontrollieren kann durch die Etablierung eines sprachlichen Regelsystems.
Man muß nicht erst die fiktive Zukunft von Orwells Nineteen
Eighty-Four bemühen, denn "Newspeak" beherrschte
zum Beispiel auch die sprachliche Wirklichkeit der ehemaligen DDR
- Begriffe wie "abkeimen" ("sich verdrücken"
im Armeejargon), "antifaschistischer Schutz-wall" ("Berliner
Mauer"), "Bausoldat" ("Kriegsdienstverweigerer"),
"KGW" ("Komme gleich wieder") sprechen Bände.
Wenn also Henne und Volmer dieses Regelwerk zerbrechen, dann zerstören
sie gleichzeitig Sprache als Machtinstrument.
Das Bild der Utopie zieht sich wie
ein roter Faden auch durch andere Künstlerbücher der burgart-presse:
Friederike Mayröcker seziert und arrangiert in Nimbus der
Kappe (achter Druck, 1993) Sprache auf die für sie typische
Weise. Die Offenbarung des Johannes (erster Druck, 1991)
in der Übersetzung von Walter Jens beschreibt in den schrecklichsten
Bildern das Strafgericht über die sündigen Menschen, die
- bedrängt durch Domitian - in Erwartung auf das Kommen des
Tausendjährigen Reiches, der verwirklichten Utopie, sind. Ist
nun in den Augen all dieser Schriftsteller und Künstler mit
dem ausgehenden zweiten Jahrtausend auch das Ende der Utopie gekommen?
Das Buch Arkanum (siebter Druck, 1992) des Autors Jörg
Kowalski mit den Bildern von Klaus Süß gibt auf diese
Frage eine ganz eigene Antwort. Der einleitende Bericht Die Begegnung,
der in bester fantastischer Erzähltradition steht, gibt vor,
eine wahre Geschichte zu sein, in deren Verlauf Jörg Kowalski
von dem alten Herrn R. ein Konvolut geheimer alchimistischer Schriften
erhält, zu deren Herausgabe in Form des Buches Arkanum
er sich schließlich genötigt sieht. "Arcanum",
das ist das Eingeschlossene, das Geheime, das für Uneingeweihte
Unzugängliche, in der Alchimie der Stein der Weisen. Seine
Ikonographie konstituiert den Hauptteil des Buches. Gleich die erste
Grafik arrangiert unterschiedliche Symbole um die Worte "Spiritus
Argenti", darauf folgen zahlreiche magische Zahlenquadrate,
die immer Ausdruck höchster Harmonie waren. Dieses jahrhundertealte
Geheimwissen wird nun aber auch ergänzt und modifiziert durch
die Gestaltungsprinzipien konkreter Poesie, angeordnet auf der Basis
alchimistischen Regelwerks. Rimbauds "Alchimie du Verbe"
wird zitiert und umgesetzt in fünf Buchstabenquadrate - je
eines pro Vokal. Die Buchstaben verlieren ihre ursprüngliche
Wertigkeit, werden zum mathematisch strukturierten Bild und gewinnen
so ihre neue Wirklichkeit. Einen Teil des Gedichtes Steinglanz
machen sinnlose Wortreihungen aus, die allein aus ihrem Klang heraus
wirken ("... des eigentlichen tiefe aber ist / klang nichts
als klang ..."). Der kurze letzte Text des Buches schlüsselt
die Intention des Autors auf:
traumbilder
an der schwelle
des erkennens
was weiß ich
was kommt - sehen
und nichts mehr benennen
sprachlos ist unser leben
ewig in eines winzigen
augenblickes
spiel
Es ist also der Appell, von mißverständlichen
und manchmal sinnentleerten Begrifflichkeiten Abstand zu nehmen,
wenn es darum geht, das Eigentliche zu benennen, da sich dieses
nur durch Symbole und Metaphern ausdrücken läßt
- dadurch, daß die Sprache selbst zur Metapher wird und nicht
mehr nur der rationalen Einsicht zugänglich ist, sondern tiefere
Persönlichkeitsschichten anspricht. Poesie und Alchimie werden
eins in ihrer Intention, und die Kräfte, die auf den Suchenden
wirken, stellt Klaus Süß mit der für ihn typischen
Formenwelt dar: strukturelle und farbliche Kontraste, die einen
triebhaften und getriebenen Menschen zeigen, der seiner Deformation
zu entfliehen versucht. Noch einmal zurück zum Thema "Utopie".
Möchte Arkanum vielleicht auch zeigen, daß in
den Wirren dieses Jahrtausends positive Weltentwürfe im Sinne
der frühen Utopien vonnöten sind; Weltentwürfe, die
auf der Balance zwischen dem Intellekt und der Intuition beruhen,
nachdem sich die Verabsolutierung der Ratio als Sackgasse herausgestellt
hat?
Reinhard Grüner
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