Am Ende des Regenbogens
Gedanken
zur Person und zum Werk des russischen Künstlers Mikhail Karasik
Durch sein enormes Panoramafenster
im 15. und 16. Stock eines Hochhauses am Finnischen Meerbusen sieht
der St. Petersburger Künstler Mikhail Karasik im Sommer die
vorbeiziehenden Ozeanriesen und im Winter miniaturisierte Schemen,
die Löcher ins Eis hacken und stundenlang fischen. Die geräumige
Wohnung, die sich über zwei Stockwerke erstreckt und deren
obere Etage nur aus einer ringsum laufenden Galerie besteht, erweckt
beim Besucher den Eindruck, als wolle sie, vergleichbar mit den
Spiegelgalerien des Barock, die Weite der Natur in die Begrenztheit
der menschlichen Behausung holen. An zentraler Stelle des Wohnzimmers
steht die Lithopresse, auf der der Künstler fast alle seiner
Werke druckt; zumeist auf wertvolles Papier deutscher Papiermühlen
mit Farben aus deutscher Produktion, aber mit Texten, die seine
ganz eigene russische Befindlichkeit dokumentieren. Leben und Werk
sind hier eine Symbiose eingegangen: Das Leben wird zum Werk und
das Werk ist das Leben.
Der Künstler Mikhail Karasik
produziert Künstlerbücher und hat sich also mit einer
relativ jungen Kunstgattung eingelassen, über die selbst bei
Spezialisten immer noch Unschärfen im Hinblick auf eine genaue
Definition herrschen. Künstlerbuch, Pressendruck, Malerbuch,
Buch des Künstlers, Kunstbuch, Buchwerk, Buchobjekt, bibliophiles
Buch sind nur einige beispielhafte Bezeichnungen für die Verbindung
von Wort und Bild zum einheitlichen dreidimensionalen Gesamtkunstwerk,
das sinnlich - und zwar mit möglichst vielen Sinnen - zu erfassen
ist. Die Bauprinzipien des Buches werden dabei zugrunde gelegt, aber
durch die Verwendung nicht unendlich reproduzierbarer grafischer
Techniken, teurer Papiere, aufwendiger Einbandmaterialien und Bindungen
entstehen Kunstwerke in kleinen und kleinsten Auflagen, die der
flachen Erfahrungswelt des Massenbuches diametral entgegenstehen.
Genau dies war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für
den englischen Künstler William Morris Anlass dafür, mit
der Gründung seiner Kelmscott Press den Beginn der modernen
Buchkunstbewegung einzuleiten und dem Kulturträger Buch in
der Form des Pressendrucks wieder zu einem Ansehen zu verhelfen,
welches das industrialisierte Massenbuch schon damals verloren hatte.
Die ästhetische Balance des handwerklich vollendeten Pressendrucks
wurde zum Dogma. Das Künstlerbuch, ein typisches Produkt des
20. Jahrhunderts, nimmt hingegen die künstlerischen Strömungen
seiner Zeit auf und öffnet sich dem revolutionärem Ungestüm
dieser Bewegungen. Es ist sicherlich kennzeichnend, dass die russischen
Futuristen und Konstruktivisten kurz vor und nach der Oktoberrevolution
1917 entscheidend waren für die neue revolutionäre Ästhetik
des Künstlerbuches. Zahlreiche Künstler der Moderne wie
z.B. Joseph Beuys, Salvador Dali, Max Ernst, Anselm Kiefer und Pablo
Picasso setzten sich intensiv mit dieser Kunstgattung "am Ende
des Regenbogens" auseinander - wohl wissend, dass ein Tafelbild
oder eine einzelne Graphik nur schwer der Komplexität unserer
modernen Welt gerecht wird. Mikhail Karasik befindet sich also in
ausgezeichneter Gesellschaft und die Kompromisslosigkeit, mit der
er sich fast nur noch mit Künstlerbüchern beschäftigt,
sagt etwas darüber aus, wie wichtig ihm Kunst eigentlich ist.
Mikhail Karasik bzw. M.K. Publishers
stellt jedes Jahr auf den wichtigsten europäischen Kunstmessen
aus. Was für westeuropäische Kunsthändler und Künstler
selbstverständlich ist, nämlich die Möglichkeit,
sich überallhin frei zu bewegen und auszustellen, gilt nicht
für Kunstschaffende aus Osteuropa. Sie benötigen in Bayern
beispielsweise eine offizielle Einladung, in der ein Bürge
eine Verpflichtungserklärung abgibt, "nach § 84 des
Ausländergesetzes die Kosten für den Lebensunterhalt und
nach §§ 82 und 83 des Ausländergesetzes die Kosten
für die Ausreise o.g. Ausländers/in zu tragen". Die
Verdienstnachweise der letzten drei Monate, ein Mietvertrag und
die Bestätigung über ein ungekündigtes Beschäftigungsverhältnis
des Bürgen sind den Behörden vorzulegen, die dann über
Einreiseerlaubnis oder Einreiseverbot entscheiden. Dass Mikhail
Karasik trotz dieser für alle Seiten erniedrigenden Umstände
zum regelmäßigen Grenzgänger, auch im übertragenen
Sinn des Wortes, in Europa und Amerika werden konnte, ist zweifelsohne
auf die Qualität seiner Kunst und sein persönliches Charisma
zurückzuführen. Durch und in der Kunst gewann er Freunde
und Förderer, Museumsdirektoren und Sammlungsleiter, die ihm
den Zugang zur westeuropäischen Kunstszene eröffneten,
und so finden sich seine Werke inzwischen in den angesehensten Bibliotheken:
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bayerische Staatsbibliothek
München, Sächsische Landesbibliothek, Klingspor-Museum
Offenbach, New York Public Library, Stanford University Libraries,
Victoria & Albert Museum London, British Library London, Centre
Pompidou Paris, Eremitage und dem Staatlichen Russischen Museum
- um nur einige wenige zu nennen. Bis jetzt unerwähnt blieb
Mikhail Karasiks Frau Marina Orlova, die fließend in mehreren
Sprachen parliert, verhandelt, korrespondiert, um ihrem Mann dadurch
genau den Freiraum zu geben, den er für seine kreative Arbeit
benötigt. M. Karasik ist also einer der wenigen russischen
Künstler, die sich im Kunstraum Westeuropa behaupten konnten
- und das schon seit seiner ersten Ausstellung in Deutschland im
Jahre 1992. Es verwundert deshalb, dass er von seinen Künstlerbüchern
in Russland nur schwer leben könnte. Der russische Markt ist
größtenteils zusammengebrochen; die steinreichen "neuen
Russen" setzen mehr auf exklusive Westkunst und private Sammler
sind in Russland in diesen Zeiten rar geworden. Die Tragik dabei
ist, dass die Künstler zwar produzieren können und dies
auch beachtet wird, aber es kaum möglich ist, darauf eine Existenz
zu gründen. Sie produzieren also zunächst einmal "das
Buch für sich selbst", das später einmal "das
Buch für uns" hier in Westeuropa wird. Mit der Spannung
und Trauer ob des Wissens, dass ihre Bücher eine Heimat nur
im Exil finden können, werden russische Künstler noch
lange leben müssen.
Die Künstlerbücher von
Mikhail Karasik lassen sich formal und inhaltlich klassifizieren.
Zum einen knüpft er an die Kunstrichtungen des Futurismus,
des Konstruktivismus und die Objektkunst des 20. Jahrhunderts an.
Bei den ersten beiden Richtungen greift er zurück auf Techniken,
die kurz vor und nach der Oktoberrevolution Gestaltungsprinzipien
russischer Buchkunst wurden und bis ca. 1930 auf revolutionäre
Weise mit der bis dahin üblichen künstlerischen Wahrnehmung
brachen - auf eine so unglaublich radikale Weise, dass diese Werke
eine Kraft und Frische gewannen, die nach 80 Jahren immer noch erstaunt.
Es ist an dieser Stelle zu erinnern an die Photomontagen und Typographie
Rodtschenkos, die Agitprop-Veröffentlichungen Kozlinskijs und
die "Stahlbetongedichte" Kamenskijs, von denen zwei Bände
auf gemustertes Tapetenpapier gedruckt wurden und durch den Beschnitt
einer Ecke pentagonale Form erhielten. Karasik spielt mit diesen
Versatzstücken futuristischer und konstruktivistischer Kunst.
Zu seinem Büchlein "Der kleine Schwimmer" (1989)
mit Texten von Kononow äußert er sich in dem Katalog
zur Ausstellung im Gutenberg-Museum Mainz 1993 folgendermaßen:
"Nach einer halbjährigen Jagd durch die Läden war
es uns gelungen, ein herrliches und aktuelles Plakat 'Perestroika'
zu kaufen. Wir drehten es um, unterteilten es entsprechend der Seitenzahl
des Buches, zerschnitten es, wie man Kinderbilder in Quadrate schneidet,
und stellten dann die Blätter zu einem Bücherblock zusammen.
Auf der zweiten Seite erschien dann wie wie von selbst ein Symbol
- ein Zeichen der Zeit, der Demokratie und der Umgestaltungen -
das Deputiertenabzeichen. Wir sind mühelos Ende der 80er Jahre
zu Konstruktivisten geworden." Auf den Umschlag mit Klappen
aus grauem Papier wurden auf rosafarbenes Papier gedruckte Anschriften
montiert, das Buch selbst ist auf die Rückseite des Plakats
abgedruckt. Das Werk "Gedanken des Asketizismus" (1995)
mit einem eigenen Text des Künstlers über seine Reisen
durch Zentralasien verbindet Farblithographien mit acht Photocollagen,
die - kunstvoll zugeschnitten - dem Buch eingebunden sind. Mikhail
Karasik nimmt jedoch nicht nur eine Tradition auf, sondern integriert
sie gekonnt in die Ästhetik des modernen Künstlerbuches,
dem er dadurch neue Dimensionen verleiht.
Auch die Objektkunst bezieht er -
wie eingangs bereits erwähnt - in sein Kunstschaffen ein. Hier
entfernt er sich radikal von der uns bekannten Form des Buches.
Er zerstört und verfremdet, um manchen Texten die Form zu geben,
die sie thematisieren. "Schneesturm" (1995) wurde vom
russischen Zoll mit Argusaugen kontrolliert, denn Kibirovs Text
befindet sich in einer Wodka- bzw. Whiskyflasche, die zerteilt wurde
und durch das Leporello des einmontierten Textes zusammengehalten
wird. Öffnen läßt sich das Buch durch das Aufschrauben
des Flaschenverschlusses, was bei einer Auflage von 35 wohl einiges
an Arbeit für die Zollbeamten bedeutet haben dürfte. Das
Unikatbuch "Anekdoten" mit Texten von Daniil Charms (1995
ff) besteht aus einem grauen Ordner, in den weiße Pappteller
eingeheftet sind, die vom Künstler von Hand beschrieben, bezeichnet
und collagiert werden. Das Buch, das auf Wunsch angefertigt wird
und von denen jedes einzelne ein Unikat darstellt, verlangt jedoch
die Mitleistung des Käufers: Er muss Photos seiner Ohren abliefern,
die - in vergrößerte Kartonschnitte transformiert - auf
den vorderen und hinteren Einbanddeckel montiert werden. "Kibirovs
Akkordeon" (1994) schließlich zeigt sich in der Form
genau dieses Musikinstruments, mit wunderbaren alten Knöpfen
als Tasten.
Man würde die Arbeit des Künstlers
Mikhail Karasik nur unzureichend beschreiben, beschränkte man
sich auf diese objekthaften, spektakulären Werke. Er ist ebenso
ein Meister der klassischen Tradition des französischen Künstlerbuches,
bei dem es auf die perfekte Kombination hervorragenden Graphik-
und Textdrucks und die im Verhältnis zum Bild ausgewogene Schrift
ankommt, und dies alles immer in Verbindung mit wertvollsten Materialien.
Verwiesen sei hier auf Brodskys "Isaac und Abraham" (1994),
"Wie der Heilige Franziskus den wilden Wolf von Guibby zu Gott
bekehrte" (1996) oder biblische Zyklen wie "David und
Uriah" (1996). Nicht umsonst erhielt der Künstler für
Arbeiten dieser Art eine lobende Anerkennung beim Walter-Tiemann-Preis.
Man muss die russische Sprache nicht
beherrschen, um die Künstlerbücher Mikhail Karasiks verstehen
zu können. Es gibt eine lange Tradition in der russischen Kunst,
die in der Schrift mehr als nur einen reinen Informationsträger
sieht. Die kyrillischen Buchstaben, die vom Künstler seitenverkehrt
von Hand auf den Lithostein aufgebracht werden müssen, gewinnen
die Qualität eines Bildes und die Tatsache, dass es sich dabei
um die Handschrift des Künstlers handelt, ermöglicht die
ideale Einheit von Text und Bild. Damit auch der inhaltliche Zugang
möglich ist, ist den meisten Büchern eine Übersetzung
beigegeben.
Inhaltlich setzt sich Mikhail Karasik
mit den unterschiedlichsten Texten auseinander. Eine besondere Rolle
spielen hierbei die Texte des Avantgarde-Schriftstellers Daniil
Charms, den man als Vater des russischen Absurden bezeichnen könnte.
Weitere russische Autoren, die immer wieder aufgegriffen werden,
sind Pasternak, Achmatowa und Oleinikov. Jedem russischen Künstler
sind zudem auch die Autoren unseres Kulturkreises bekannt, darunter
Kafka und Eluard. Biblische Themen finden von Anfang an Beachtung
und so entstehen umfangreiche Zyklen wie "König Salomos
Hohes Lied" (1988, 1990, 1998), "Tamar" (1992) und
"Die Klagen des Jeremiah" (1993, 1994). Unbedingt erwähnt
werden müssen hier auch die eigenen Texte des Künstlers,
die sich sehr tiefsinnig und auch ironisierend teilweise mit der
eigenen Person auseinandersetzen, wie dies im Künstlerbuch
"Selbstportrait" (1997) der Fall ist.
Was macht nun die Bücher des
Künstlers für uns so interessant? Es ist dies sicherlich
ihre kulturübergreifende Thematik. Sie sind Produkte moderner
russischer Kunst, die aber nicht in ihrem regionalen Raum verharren,
sondern über Ländergrenzen hinweg große und vielfältige
Themen und künstlerische Formen visualisieren. Es ist ihre
große Leistung, dass sie Gegensätzliches verbinden und
teilweise schmerzhafte Antagonismen auflösen. Oder ist es nicht
verwunderlich, dass ein jüdischer Künstler wie Mikhail
Karasik ein Künstlerbuch zum Thema Minarett ("Minarett",
1999) schafft? Dies dokumentiert, neben der perfekten Beherrschung
des Handwerks, die wichtige Rolle, die der Künstler jetzt schon
in der Kunstgeschichte der Moderne einnimmt. Hängt dies vielleicht
auch ein klein wenig zusammen mit dem eingangs beschriebenen Blick
über das Meer, der auch im übertragenen Sinne die Person
des Künstlers und sein Werk charakterisiert?
Dank sei Herrn Dürr gesagt,
der sich die Mühe macht, die Kunst Mikhail Karasiks auch in
München vorzustellen. Dank gebührt aber auch dem interessierten
Publikum, das sich auf das Abenteuer Künstlerbücher aus
Russland einlässt und damit über das Meer zum Ende des
Regenbogens blickt, bei dem - mag man der Legende Glauben schenken
- Gold an genau der Stelle zu finden ist, an der er die Erde berührt.
Reinhard Grüner
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