Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Am Ende des Regenbogens

Gedanken zur Person und zum Werk des russischen Künstlers Mikhail Karasik

Durch sein enormes Panoramafenster im 15. und 16. Stock eines Hochhauses am Finnischen Meerbusen sieht der St. Petersburger Künstler Mikhail Karasik im Sommer die vorbeiziehenden Ozeanriesen und im Winter miniaturisierte Schemen, die Löcher ins Eis hacken und stundenlang fischen. Die geräumige Wohnung, die sich über zwei Stockwerke erstreckt und deren obere Etage nur aus einer ringsum laufenden Galerie besteht, erweckt beim Besucher den Eindruck, als wolle sie, vergleichbar mit den Spiegelgalerien des Barock, die Weite der Natur in die Begrenztheit der menschlichen Behausung holen. An zentraler Stelle des Wohnzimmers steht die Lithopresse, auf der der Künstler fast alle seiner Werke druckt; zumeist auf wertvolles Papier deutscher Papiermühlen mit Farben aus deutscher Produktion, aber mit Texten, die seine ganz eigene russische Befindlichkeit dokumentieren. Leben und Werk sind hier eine Symbiose eingegangen: Das Leben wird zum Werk und das Werk ist das Leben.

Der Künstler Mikhail Karasik produziert Künstlerbücher und hat sich also mit einer relativ jungen Kunstgattung eingelassen, über die selbst bei Spezialisten immer noch Unschärfen im Hinblick auf eine genaue Definition herrschen. Künstlerbuch, Pressendruck, Malerbuch, Buch des Künstlers, Kunstbuch, Buchwerk, Buchobjekt, bibliophiles Buch sind nur einige beispielhafte Bezeichnungen für die Verbindung von Wort und Bild zum einheitlichen dreidimensionalen Gesamtkunstwerk, das sinnlich - und zwar mit möglichst vielen Sinnen - zu erfassen ist. Die Bauprinzipien des Buches werden dabei zugrunde gelegt, aber durch die Verwendung nicht unendlich reproduzierbarer grafischer Techniken, teurer Papiere, aufwendiger Einbandmaterialien und Bindungen entstehen Kunstwerke in kleinen und kleinsten Auflagen, die der flachen Erfahrungswelt des Massenbuches diametral entgegenstehen. Genau dies war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für den englischen Künstler William Morris Anlass dafür, mit der Gründung seiner Kelmscott Press den Beginn der modernen Buchkunstbewegung einzuleiten und dem Kulturträger Buch in der Form des Pressendrucks wieder zu einem Ansehen zu verhelfen, welches das industrialisierte Massenbuch schon damals verloren hatte. Die ästhetische Balance des handwerklich vollendeten Pressendrucks wurde zum Dogma. Das Künstlerbuch, ein typisches Produkt des 20. Jahrhunderts, nimmt hingegen die künstlerischen Strömungen seiner Zeit auf und öffnet sich dem revolutionärem Ungestüm dieser Bewegungen. Es ist sicherlich kennzeichnend, dass die russischen Futuristen und Konstruktivisten kurz vor und nach der Oktoberrevolution 1917 entscheidend waren für die neue revolutionäre Ästhetik des Künstlerbuches. Zahlreiche Künstler der Moderne wie z.B. Joseph Beuys, Salvador Dali, Max Ernst, Anselm Kiefer und Pablo Picasso setzten sich intensiv mit dieser Kunstgattung "am Ende des Regenbogens" auseinander - wohl wissend, dass ein Tafelbild oder eine einzelne Graphik nur schwer der Komplexität unserer modernen Welt gerecht wird. Mikhail Karasik befindet sich also in ausgezeichneter Gesellschaft und die Kompromisslosigkeit, mit der er sich fast nur noch mit Künstlerbüchern beschäftigt, sagt etwas darüber aus, wie wichtig ihm Kunst eigentlich ist.

Mikhail Karasik bzw. M.K. Publishers stellt jedes Jahr auf den wichtigsten europäischen Kunstmessen aus. Was für westeuropäische Kunsthändler und Künstler selbstverständlich ist, nämlich die Möglichkeit, sich überallhin frei zu bewegen und auszustellen, gilt nicht für Kunstschaffende aus Osteuropa. Sie benötigen in Bayern beispielsweise eine offizielle Einladung, in der ein Bürge eine Verpflichtungserklärung abgibt, "nach § 84 des Ausländergesetzes die Kosten für den Lebensunterhalt und nach §§ 82 und 83 des Ausländergesetzes die Kosten für die Ausreise o.g. Ausländers/in zu tragen". Die Verdienstnachweise der letzten drei Monate, ein Mietvertrag und die Bestätigung über ein ungekündigtes Beschäftigungsverhältnis des Bürgen sind den Behörden vorzulegen, die dann über Einreiseerlaubnis oder Einreiseverbot entscheiden. Dass Mikhail Karasik trotz dieser für alle Seiten erniedrigenden Umstände zum regelmäßigen Grenzgänger, auch im übertragenen Sinn des Wortes, in Europa und Amerika werden konnte, ist zweifelsohne auf die Qualität seiner Kunst und sein persönliches Charisma zurückzuführen. Durch und in der Kunst gewann er Freunde und Förderer, Museumsdirektoren und Sammlungsleiter, die ihm den Zugang zur westeuropäischen Kunstszene eröffneten, und so finden sich seine Werke inzwischen in den angesehensten Bibliotheken: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bayerische Staatsbibliothek München, Sächsische Landesbibliothek, Klingspor-Museum Offenbach, New York Public Library, Stanford University Libraries, Victoria & Albert Museum London, British Library London, Centre Pompidou Paris, Eremitage und dem Staatlichen Russischen Museum - um nur einige wenige zu nennen. Bis jetzt unerwähnt blieb Mikhail Karasiks Frau Marina Orlova, die fließend in mehreren Sprachen parliert, verhandelt, korrespondiert, um ihrem Mann dadurch genau den Freiraum zu geben, den er für seine kreative Arbeit benötigt. M. Karasik ist also einer der wenigen russischen Künstler, die sich im Kunstraum Westeuropa behaupten konnten - und das schon seit seiner ersten Ausstellung in Deutschland im Jahre 1992. Es verwundert deshalb, dass er von seinen Künstlerbüchern in Russland nur schwer leben könnte. Der russische Markt ist größtenteils zusammengebrochen; die steinreichen "neuen Russen" setzen mehr auf exklusive Westkunst und private Sammler sind in Russland in diesen Zeiten rar geworden. Die Tragik dabei ist, dass die Künstler zwar produzieren können und dies auch beachtet wird, aber es kaum möglich ist, darauf eine Existenz zu gründen. Sie produzieren also zunächst einmal "das Buch für sich selbst", das später einmal "das Buch für uns" hier in Westeuropa wird. Mit der Spannung und Trauer ob des Wissens, dass ihre Bücher eine Heimat nur im Exil finden können, werden russische Künstler noch lange leben müssen.

Die Künstlerbücher von Mikhail Karasik lassen sich formal und inhaltlich klassifizieren. Zum einen knüpft er an die Kunstrichtungen des Futurismus, des Konstruktivismus und die Objektkunst des 20. Jahrhunderts an. Bei den ersten beiden Richtungen greift er zurück auf Techniken, die kurz vor und nach der Oktoberrevolution Gestaltungsprinzipien russischer Buchkunst wurden und bis ca. 1930 auf revolutionäre Weise mit der bis dahin üblichen künstlerischen Wahrnehmung brachen - auf eine so unglaublich radikale Weise, dass diese Werke eine Kraft und Frische gewannen, die nach 80 Jahren immer noch erstaunt. Es ist an dieser Stelle zu erinnern an die Photomontagen und Typographie Rodtschenkos, die Agitprop-Veröffentlichungen Kozlinskijs und die "Stahlbetongedichte" Kamenskijs, von denen zwei Bände auf gemustertes Tapetenpapier gedruckt wurden und durch den Beschnitt einer Ecke pentagonale Form erhielten. Karasik spielt mit diesen Versatzstücken futuristischer und konstruktivistischer Kunst. Zu seinem Büchlein "Der kleine Schwimmer" (1989) mit Texten von Kononow äußert er sich in dem Katalog zur Ausstellung im Gutenberg-Museum Mainz 1993 folgendermaßen: "Nach einer halbjährigen Jagd durch die Läden war es uns gelungen, ein herrliches und aktuelles Plakat 'Perestroika' zu kaufen. Wir drehten es um, unterteilten es entsprechend der Seitenzahl des Buches, zerschnitten es, wie man Kinderbilder in Quadrate schneidet, und stellten dann die Blätter zu einem Bücherblock zusammen. Auf der zweiten Seite erschien dann wie wie von selbst ein Symbol - ein Zeichen der Zeit, der Demokratie und der Umgestaltungen - das Deputiertenabzeichen. Wir sind mühelos Ende der 80er Jahre zu Konstruktivisten geworden." Auf den Umschlag mit Klappen aus grauem Papier wurden auf rosafarbenes Papier gedruckte Anschriften montiert, das Buch selbst ist auf die Rückseite des Plakats abgedruckt. Das Werk "Gedanken des Asketizismus" (1995) mit einem eigenen Text des Künstlers über seine Reisen durch Zentralasien verbindet Farblithographien mit acht Photocollagen, die - kunstvoll zugeschnitten - dem Buch eingebunden sind. Mikhail Karasik nimmt jedoch nicht nur eine Tradition auf, sondern integriert sie gekonnt in die Ästhetik des modernen Künstlerbuches, dem er dadurch neue Dimensionen verleiht.

Auch die Objektkunst bezieht er - wie eingangs bereits erwähnt - in sein Kunstschaffen ein. Hier entfernt er sich radikal von der uns bekannten Form des Buches. Er zerstört und verfremdet, um manchen Texten die Form zu geben, die sie thematisieren. "Schneesturm" (1995) wurde vom russischen Zoll mit Argusaugen kontrolliert, denn Kibirovs Text befindet sich in einer Wodka- bzw. Whiskyflasche, die zerteilt wurde und durch das Leporello des einmontierten Textes zusammengehalten wird. Öffnen läßt sich das Buch durch das Aufschrauben des Flaschenverschlusses, was bei einer Auflage von 35 wohl einiges an Arbeit für die Zollbeamten bedeutet haben dürfte. Das Unikatbuch "Anekdoten" mit Texten von Daniil Charms (1995 ff) besteht aus einem grauen Ordner, in den weiße Pappteller eingeheftet sind, die vom Künstler von Hand beschrieben, bezeichnet und collagiert werden. Das Buch, das auf Wunsch angefertigt wird und von denen jedes einzelne ein Unikat darstellt, verlangt jedoch die Mitleistung des Käufers: Er muss Photos seiner Ohren abliefern, die - in vergrößerte Kartonschnitte transformiert - auf den vorderen und hinteren Einbanddeckel montiert werden. "Kibirovs Akkordeon" (1994) schließlich zeigt sich in der Form genau dieses Musikinstruments, mit wunderbaren alten Knöpfen als Tasten.

Man würde die Arbeit des Künstlers Mikhail Karasik nur unzureichend beschreiben, beschränkte man sich auf diese objekthaften, spektakulären Werke. Er ist ebenso ein Meister der klassischen Tradition des französischen Künstlerbuches, bei dem es auf die perfekte Kombination hervorragenden Graphik- und Textdrucks und die im Verhältnis zum Bild ausgewogene Schrift ankommt, und dies alles immer in Verbindung mit wertvollsten Materialien. Verwiesen sei hier auf Brodskys "Isaac und Abraham" (1994), "Wie der Heilige Franziskus den wilden Wolf von Guibby zu Gott bekehrte" (1996) oder biblische Zyklen wie "David und Uriah" (1996). Nicht umsonst erhielt der Künstler für Arbeiten dieser Art eine lobende Anerkennung beim Walter-Tiemann-Preis.

Man muss die russische Sprache nicht beherrschen, um die Künstlerbücher Mikhail Karasiks verstehen zu können. Es gibt eine lange Tradition in der russischen Kunst, die in der Schrift mehr als nur einen reinen Informationsträger sieht. Die kyrillischen Buchstaben, die vom Künstler seitenverkehrt von Hand auf den Lithostein aufgebracht werden müssen, gewinnen die Qualität eines Bildes und die Tatsache, dass es sich dabei um die Handschrift des Künstlers handelt, ermöglicht die ideale Einheit von Text und Bild. Damit auch der inhaltliche Zugang möglich ist, ist den meisten Büchern eine Übersetzung beigegeben.

Inhaltlich setzt sich Mikhail Karasik mit den unterschiedlichsten Texten auseinander. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Texte des Avantgarde-Schriftstellers Daniil Charms, den man als Vater des russischen Absurden bezeichnen könnte. Weitere russische Autoren, die immer wieder aufgegriffen werden, sind Pasternak, Achmatowa und Oleinikov. Jedem russischen Künstler sind zudem auch die Autoren unseres Kulturkreises bekannt, darunter Kafka und Eluard. Biblische Themen finden von Anfang an Beachtung und so entstehen umfangreiche Zyklen wie "König Salomos Hohes Lied" (1988, 1990, 1998), "Tamar" (1992) und "Die Klagen des Jeremiah" (1993, 1994). Unbedingt erwähnt werden müssen hier auch die eigenen Texte des Künstlers, die sich sehr tiefsinnig und auch ironisierend teilweise mit der eigenen Person auseinandersetzen, wie dies im Künstlerbuch "Selbstportrait" (1997) der Fall ist.

Was macht nun die Bücher des Künstlers für uns so interessant? Es ist dies sicherlich ihre kulturübergreifende Thematik. Sie sind Produkte moderner russischer Kunst, die aber nicht in ihrem regionalen Raum verharren, sondern über Ländergrenzen hinweg große und vielfältige Themen und künstlerische Formen visualisieren. Es ist ihre große Leistung, dass sie Gegensätzliches verbinden und teilweise schmerzhafte Antagonismen auflösen. Oder ist es nicht verwunderlich, dass ein jüdischer Künstler wie Mikhail Karasik ein Künstlerbuch zum Thema Minarett ("Minarett", 1999) schafft? Dies dokumentiert, neben der perfekten Beherrschung des Handwerks, die wichtige Rolle, die der Künstler jetzt schon in der Kunstgeschichte der Moderne einnimmt. Hängt dies vielleicht auch ein klein wenig zusammen mit dem eingangs beschriebenen Blick über das Meer, der auch im übertragenen Sinne die Person des Künstlers und sein Werk charakterisiert?

Dank sei Herrn Dürr gesagt, der sich die Mühe macht, die Kunst Mikhail Karasiks auch in München vorzustellen. Dank gebührt aber auch dem interessierten Publikum, das sich auf das Abenteuer Künstlerbücher aus Russland einlässt und damit über das Meer zum Ende des Regenbogens blickt, bei dem - mag man der Legende Glauben schenken - Gold an genau der Stelle zu finden ist, an der er die Erde berührt.

Reinhard Grüner