"Fast ohne
Buchstaben ..."
Gedanken zu den Buchobjekten von Ilona Kiss
Die letzte Humanität, Das
Notizbuch des Bosnien-Korrespondenten, Das Buch von Janek - "Holocaust":
Titel von Buchobjekten der ungarischen Künstlerin Ilona Kiss,
mit denen sie Themen benennt, die den inhaltlichen Gesetzen der
Bibliophilie, wie sie heute vorzugsweise gepflegt wird, vehement
widersprechen. Trotzdem ist die 1955 in Budapest geborene und 1979
dort diplomierte Künstlerin mit ihrer Arbeit anerkannt und
durch zahlreiche lokale und überregionale Ausstellungen dem
kunstsinnigen Publikum sehr wohl bekannt. Ein Widerspruch?
Ihre unikaten Objekte mit plastischen
Dimensionen sprengen die Grenzen des primär zweidimensional
definierten Mediums Buch und fordern von dem Kunstbetrachter eine
veränderte Wahrnehmungsweise. Neben den buchtypischen Materialien
wie Papier, Pappe und Leinen verwendet Ilona Kiss häufig Buchfremdes
- Seide, Tüll, Filz, Sandpapier, Papiermasse, Hölzer,
Plastik, Metalldrähte, Nieten. Die meisten dieser Buchobjekte
setzen den Formenvorrat experimenteller Techniken um in eine Multifunktionalität,
die eben nur durch diese Papierschnitte, Leporellos und Pop-Ups
erreicht werden kann. Dabei beschränkt sich die Künstlerin
nicht auf das Plazieren vordergründiger Effekte, sondern formuliert
inhaltliche Aussagen in der Variabilität der Form; die verbrannten
Seiten des Objektes Das Buch von Janek - "Holocaust"
( Livre de Janek - "Holocaust"), aus dem Spuren des
Goldes hervorleuchten, erzählen mehr als manche geschichtlichen
Werke. Auch Farbe transportiert Inhalte; in dem Buch Kleiner
Ablage-Ordner des Glücks (Petit Classeur du Bonheur) ist
sie aufgefächert in die Farben des Regenbogens, im Kleinen
weiblichen Buch (Petit Livre Feminin) in zarten Rosatönen
gehalten. Die Texthaftigkeit dieser Bücher wird hingegen bis
zur letzten Konsequenz reduziert: Die letzte Humanität (Garder
les Derniers Gestes Humains) trägt nur noch den Buchstaben
"z", im Zensierten Buch. Fast ohne Buchstaben
(Livre Censuré. Presque sans Lettres) verschwinden die
Worte im farbigen Untergrund des Papiers - so als hätte in
der Welt der Ilona Kiss die sinnstiftende Rolle kohärenter
Texte aufgehört zu existieren. Dafür aber sprechen Materialien,
Formen und Farben eine um so stärkere Sprache, die aber nur
zu entschlüsseln vermag, wer sich mit seinen Sinnen auf diese
Kunstwerke einläßt - wer fühlt, riecht, hört
und natürlich sieht. Allein mit der ordnenden Instanz mentaler
Logik läßt sich diesen sinnlichen Büchern nur schwer
beikommen.
Die Themen, mit denen sich die Künstlerin
auseinandersetzt, sind vielfältig. Da geht es beispielsweise
um Geschichte (Kleines anarchistisches Buch / Petit Livre Anarchiste,
Das Notizbuch des Bosnien-Korrespondenten / Cahier du Correspondent
de Bosnie); darum, welchen Gefährdungen der Mensch nicht
nur in totalitären Systemen ausgesetzt ist. Da geht es auch
darum, die Macht über die Worte, die Rolle der Zensur künstlerisch
zu formulieren (Giftige Worte / Mots Venimeux, Zensiertes Buch
/ Livre Censuré). Es erscheint mir müßig,
darüber zu spekulieren, inwieweit sich die Arbeit von Frau
Kiss auf die totalitären Strukturen osteuropäischer Staaten,
also auf die Welt, in die sie hineingeboren wurde, bezieht, da vergleichbare
Unterdrückungsmechanismen auch in anderen Teilen der Welt -
selbst in demokratischen Systemen - eingesetzt werden. Immer wieder
taucht die Materialität und Formensprache der Natur in diesen
Büchern auf (Fächerbuch / Livre en Eventail, Straßenatlas
/ Routier). Sollen sie uns auf den schleichenden Verlust unserer
Pflanzenwelt aufmerksam machen - uns zeigen, daß scheinbar
Belangloses neu arrangiert Schönheit und Sinn stiftet? Einen
breiten Raum nimmt auch die Darstellung des Weiblichen und Männlichen
und ihrer Beziehung gegen- und miteinander ein (Das große
weibliche Buch / Le Grand Livre Feminin, Du hast mich ganz allein
gelassen, Großes Macho-Buch / Grand Livre "Macho").
Hier läßt sie ihre Strukturen, Papiere und Farben Geschichten
erzählen - nur, daß irgendwie jede Geschichte auch die
eigene sein könnte ...
Gerade in diesem Europa, bei dem
der Prozeß der Auflösung politischer und wirtschaftlicher
Grenzen kontinuierlich voranschreitet und die bislang dominierenden
Territorialstaaten in absehbarer Zeit in einem Staat "Europa"
aufgehen werden, wird dem Kunstschaffenden eine immens wichtige
Aufgabe zuteil: Da er nicht unbedingt auf das traditionelle Medium
regional begrenzter Sprache angewiesen ist, sondern auf international
dechiffrierbare Bilder zurückgreifen kann, ist es ihm möglich,
auf der Basis des sinnlich Erfahrbaren eine Metasprache zu entwickeln.
Das demokratische Element dieser Internationalität zeichnet
auch die Arbeiten von Ilona Kiss aus. Ihre Buchobjekte sind typisch
für eine Zeit des Übergangs - sie zeigen und bewahren
die Spuren einer leuchtenden und einer finsteren Vergangenheit,
verweisen aber auch auf Kommendes, bei dem es an uns liegt, welche
Farben es tragen wird.
Reinhard Grüner
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