Das Künstlerbuchprojekt
Waggon
Gedanken zur Genese eines Buches
Der Gedanke zu dem vor Ihnen liegenden
Buch entstand an einem lauen Julitag des Jahres 1993. Vor der Renaissancefassade
des alten Nürnberger Rathauses, in dem damals gerade die 4.
Handpressentriennale Druck & Buch stattfand, entwickelte sich
ein längeres Gespräch mit dem Bernburger Künstler
und Herausgeber der Edition Augenweide Ulrich Tarlatt. Nicht lange
zuvor war das Sowjetimperium zusammengebrochen, und Europa hatte
in den Monaten und Jahren darauf eine Welle von Fremdenhaß,
Intoleranz und aufflackernden Nationalismen erlebt. So kam die Rede
auch auf diese neuen Ost-West-Gegensätze und darauf, welche
Rolle der Künstler als Mittler zwischen Kulturräumen spielen
könnte, die noch zu Beginn dieses Jahrhunderts einen regen
Austausch gepflegt hatten. Jede auch noch so bescheidene Äußerung
könnte Zeichen gegen die Sprachlosigkeit setzen. Als Sammler
von Künstlerbüchern hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits
Kontakte zu einem Kunsthändler und Künstlern aus St. Petersburg,
Moskau und hier in München Exilierten. Zwei Jahre später
liegt das Resultat dieser Unterhaltung vor: Ein monumentales Künstlerbuch
mit 40 Originalgrafiken von 8 Künstlern aus Rußland und
der Ukraine, aus Ost- und Westdeutschland.
Das Werk vermittelt zwar das Gefühl
von künstlerischer Leichtigkeit, doch war der Weg dahin ein
holpriger, der sich an realen und irrealen Hindernissen vorbeischlängelte
und instandgehalten wurde durch das Engagement der Künstler
und immer wieder eine Dosis krisensicheren Humors. Am 3.6.1994 klagt
Julia Kissina über Muskelkater und die vorhergehende schlaflose
Nacht, die ihr der Lithodruck bereitet hatte. Mitte Juni verschwindet
sie unerwartet in die Ukraine, Grund unbekannt. Es bestehen nur
noch telefonische Kontakte. Im gleichen Monat erhält Ulrich
Tarlatt von einem deutschen Journalisten die Grafiken von Dergatchov
und Tishkov, jedoch muß ein Teil der Auflage zurück,
da sie (in guter russischer Tradition) nicht signiert ist. Anfang
August 94 bringt Julia Kissinas Freund Lithopapier nach Moskau,
wo ihre Arbeiten schließlich in der Moskauer Kunstakademie
gedruckt werden. Der restliche Teil des Papiers wird von einem Piloten
als Handgepäck mit in das Cockpit der Maschine genommen, um
zusätzliche Kosten zu sparen und komplizierte Behördenwege
zu umgehen.
Grundprinzip bei der Entwicklung
des Buchkonzeptes war die völlige künstlerische Freiheit
der Beteiligten, die nur formale Vorgaben erhielten. Jeder Künstler
mußte Texte aus dem anderen Sprachraum wählen und diese
bildlich umsetzen. Schon vor der politischen Wende in der Sowjetunion
waren die osteuropäischen Künstler über ihre Grenzen
hinaus bekannt und gewürdigt und werden heute in Standardwerken
wie dem Uzercher Katalog "Livres D'Artistes Russes et Sovietiques
1910-1993" in einer Reihe mit El Lissitzky, Malevitch und Rodtchenko
genannt. Sie haben ihre ganz eigene Sicht der Dinge, die an Traditionen
und Denkweisen anknüpft, die besonders im westlichen Teil Deutschlands
vielen immer noch unbekannt sind - an Traditionen, die auch jahrzehntelange
politische Indoktrinierung nicht abtöten konnte, sondern vielmehr
sogar beförderte: den künstlerische Infantilismus Julia
Kissinas, die gerne Kinderbücher zitiert, den Futurismus in
der russischen Buchkunst, den Michail Karasik in seinen originalgrafischen
Büchern mit Collagen und Verfremdungen weiterführt, die
Hommage Oleg Dergatchovs an die Werke der großen russischen
Dichter, die er mit seinen Grafiken kommentiert und schließlich
Tishkovs ganz persönliche und auf seine Epoche bezogene Mythologie.
Auch jeder der deutschen Künstler entfaltet seine charakteristische
Bildwelt als Antwort auf die Texte des anderen Landes: Das Zeichenhafte
der Grafiken Beate Kameckes, mit dem sie auf die Chiffren von Daniil
Charms reagiert, das Tiefsinnig-Grüblerische Christian Riebes,
die leise Melancholie der Arbeiten Anette Groschopps und schließlich
die schmunzelnde Satire Ulrich Tarlatts auf den Gedankenflug des
Suffs.
Ganz im Sinne des Futurismus werden
nicht nur die russischen/ukrainischen Texte kalligrafisch wiedergegeben,
sondern auch die der deutschen Künstler. Das Wort als Bild
und das Bild als Geschichte ist wesentliches Strukturmerkmal dieses
Künstlerbuches. Prinzipiell ist jedem Text ein Bild zugeordnet,
aber natürlich kann und soll der Leser diese Ausschließlichkeit
durchbrechen. Durch den geteilten Buchblock ist es möglich,
zahlreiche neue Kombinationen zwischen dem oberen und unteren Buchteil
zu schaffen; eine Vielzahl von Variationen machen den Leser so zum
Schöpfer immer wieder neuer Bild- und Textwelten. Der metaphorische
Buchtitel "Waggon" bringt dieses Spiel zwischen Autor,
Künstler, Leser und Betrachter genau auf den Punkt. Natürlich
ist dies mehr als nur ein Spiel, da der Grad seiner Intensität
die Tiefe des Verständnisses für die Kultur des anderen
Landes bewirkt. Und genau dies war - wie eingangs erwähnt -
der Anreiz für die Durchführung des Buchprojektes: Man
wollte in einer Zeit des immer wieder aufbrechenden Fremdenhasses
und der Intoleranz ein Zeichen setzen für Annäherung und
Akzeptanz in der Hoffnung, daß 40 Bilder und 40 Texte Anlaß
sind zur Besinnung und zum Gespräch und auch dazu anregen,
mehr voneinander wissen zu wollen.
Natürlich kommt ein Buch dieser
Größenordnung nur durch die Mitarbeit zahlreicher Beteiligter
zustande, denen für ihre Leidenschaft und Intensität sehr
viel Dank gebührt. Stellvertretend sollen hier Michail Karasik
und seine Frau Marina genannt sein, die den Kontakt zwischen den
Künstlern in Rußland aufrecht erhielten, Kurierdienste
organisierten und zwischen den beiden Welten pendelten. Last but
not least gebührt auch dem Kultusministerium von Sachsen-Anhalt
Dank, hat es doch die Bedeutung dieses Buchprojektes schnell und
richtig erkannt und die Realisierung finanziell ermöglicht.
So geht dieses Buch nun - wenn auch nur in sehr kleiner Auflage
- seinen Weg durch Museen und Ausstellungen und wird, über
die Welt verstreut, seinen Platz in privaten und öffentlichen
Sammlungen finden. Ich möchte mir wünschen, daß
man sich daran freut, daran stößt, darüber lacht
und darüber kommuniziert und so einen Teil des kreativen Prozesses
der letzten beiden Jahre fortführt.
Reinhard Grüner
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