Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Buchkunst - eine Reise zu den Rändern der Gutenberg-Galaxis

Künstlerbücher gehören zu den geheimnisvollsten Manifestationen des Kunstmarkts. Sie verbergen sich hinter vielfältigen Benennungen, die eine eindeutige Zuordnung erschweren: Künstlerbücher Bücher der Künstlerr, Pressendrucke, bibliophile Bücher illustrierte Bücher Malerbücher Buchwerke, Unikatbücher Buchobjekte - um nur einige zu nennen. Zudem haben sie - von seltenen Ausnahmen abgesehen - eine geringe künstlerische Öffentlichkeit und erscheinen so rar wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen: Galerien, denen die Aufgabe der Kunstvermittlung eigentlich zukommen sollte, meiden sie, da sie sich nicht so plakativ präsentntieren lassen wie Gemälde, Installationen oder Videoclips. Für Kunstmuseen sind sie wohl nicht spektakulär genug, sieht man von einer seltenen Ausstellung mit Picasso-Künstlerbüchern ab. Gelegentlich bemühen sich Bibliotheken um bemerkenswerte umfassende Künstlerbücher-Ausstellungen aus ihren Beständen, wie z. B. 1992 die Bayerische Staatsbibliothek mit ihrer Ausstellung „Papiergesänge. Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert“. Aufgrund drastischer Kürzungen im Ankaufs- und Ausstellungsetat ist dort zum Thema moderne Buchkunst seitdem keine umfangreiche Ausstellung mehr gezeigt worden. Künstlerbücher - die vergessenen Kinder der Kunstgeschichte - führen also eine Nischenexistenz, obwohl sie zu den komplexesten und anspruchsvollsten Kunstwerken der Moderne gehören. Da ist es umso beachtlicher, dass eine Stiftung wie das Münchner Lyrik-Kabinett (www.lyrik-kabinett.de) bereits zum dritten Mal eine Ausstellung zu diesem Thema ausrichtet.

Künstlerbücher, Kunstwerke in Buchform, haben ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Vereinfacht gesagt, gibt es zwei unterschiedliche Entwicklungslinien, die sich aber auch ergänzen und überlagern können. Als Teil des Arts and Crafts Movement gründete William Morris 1888 seine Kelmscott Press, deren erste Veröffentlichung 1891 erschien. Mit seinen Drucken versuchte Morris sich von den niedrigen Standards der industriellen Serienfertigung abzusetzen, verband Kunst und Handwerk und legte dabei Wert auf die Qualität des Papiers, auf Typografie, Einband und die gesamte Buchgestaltung. Der Druck auf einer Presse, der Beherrschung des Handwerks voraussetzte, war hierbei entscheidend. Es sollte ein Buch mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Buchschmuck und verwendeter Schrift entstehen. Der Kelmscott „Chaucer“ mit 87 Holzschnitten von Edward Burne-Jones wurde aufgrund des dekorativen Reichtums vom Künstler als „Kathedrale im Taschenformat“ bezeichnet und ist wohl das beachtlichste Druckwerk der Presse. In dieser Tradition arbeiteten dann später deutsche Editionen wie die Officina Serpentis, Rupprecht-Presse, Cranach-Presse, Otto Rohse Presse, die Rabenpresse von Victor Otto Stomps und die 2010 leider eingestellte Eremiten-Presse von Jens Olsson und Friedolin Reske. Eine der beachtlichsten noch existierenden modernen Pressen ist sicherlich die Edition Balance (www.edition-balance.de) aus Gelbensande, die in genau dieser Tradition steht und sie in die Moderne hinein erweitert - z. B. mit Texten von Volker Braun, Friederike Mayröcker, Christa Wolf und Bildern von Bodo Korsig, Helge Leiberg, Carsten Nicolai.

Eine neue Entwicklung wurde 1977 auf der documenta 6 in Kassel mit Künstlerbüchern aus der Sammlung Rolf Dittmar aufgezeigt. (Ein Teil dieser beachtlichen Sammlung wurde übrigens kurz nach der documenta 6 in Teheran ausgestellt, wartete in Containern auf den Rücktransport und verbrannte bei Unruhen.) In Band 3 des umfangreichen Katalogs gliederte Dittmar seine Auswahl in „Metamorphosen des Buches“ und „Konzept-Bücher#147; und zeigte Bücher u.a. von Jürgen Brodwolf, Marcel Broodthaers, Hanne Darboven, Lucio Fontana, Anselm Kiefer, On Kawara, Dieter Roth, Timm Ulrichs, Wolf Vostell und Andy Warhol. Dittmar beschreibt im Vorwort die völlig neue Ausrichtung dieser B? „Der Künstler beginnt das Medium Buch als Instrument der Sachinformationsvermittlung in Frage zu stellen. Er wendet nicht mehr wie bisher die Mittel künstlerischer Gestaltung auf das Buch an, sondern benutzt die technischen Möglichkeiten des Buches als Mittel künstlerischen Ausdrucks.“ So entstehen Künstlerbücher die ganz andere Ziele verfolgen: ein angebranntes Buch (Bernard Aubertin, „Angebranntes und anzubrennendes Buch“); ein stufenförmig eingeschnittener Buchblock mit einer ausgedrückten Farbtube (Jürgen Brodwolf, „Poetengrab“); ein Buch mit beschriebenen, bemalten und collagierten Seiten, mit Bronze, Wachs, eingeklebten Briefen, Stoffen (Michael Buthe, „Tagebuch 1“); ein Buch mit Fotos, Natriumpackpapier mit schwarzer Ölfarbe und Kobaltsickativ behandelt (Anselm Kiefer, „Die Überschwemmung von Heidelberg“); schließlich der Klassiker „Andy Warhol's Index Book“ mit Fotografien, Pop-Up-Elementen und einer Schallplatte. Auch diese Entwicklungslinie der Buchkunst-Bewegung ist immer noch sehr aktiv und global zu finden: von der gefalteten, bedruckten DNA-Struktur aus Papier zwischen Plexiglasscheiben (Deb Rindl, „The Human Chain&“) über die beweglichen Buchmaschinen des Sergei Yakunin aus Moskau (z.B. „Tod und Liebe“) bis zu den Unikaten des Zbigniew Jez mit verschraubten Seiten und zerstörten Buchblöcken, die weit über das hinausweisen, was wir heute immer noch von einem Buch erwarten.

Zwischen diesen Polen oszilliert die Welt des modernen Künstlerbuches, die sich zudem immer mehr den modernen Drucktechniken öffnet und dabei auch Werke an der Schnittstelle zwischen Text und Bild hervorbringt, die trotz ihres geringen Preises überaus beachtlich sind wie das amerikanische Vintage Magazine (www.vintagezine.com) mit unterschiedlichen Papieren, Kartonschnitten und Pop-Ups. Die Komplexität des modernen Lebens findet sich wieder in dem komplexen Inhalt und in der vielschichtigen Gestaltung moderner Künstlerbücher Der Akt des Betrachtens und Umblätterns ist eine Bewegung in Zeit und Raum, durch die das Buch eine Geschichte erzählt. Ein gutes Künstlerbuch kann alle Sinne ansprechen. Und das Bewusstsein, eines dieser Werke in Kleinstauflage oder sogar ein Unikat zu besitzen, bereichert das eigene Leben ungemein.

Um die Vielfalt dieses Genres kennenzulernen, empfiehlt sich der Besuch der Frankfurter Buchmesse (Halle 4.1), der alle zwei Jahre stattfindenden Minipressenmesse in Mainz, das Studium einschlägiger Sammler-Webseiten wie www.artistbooks.de, www.buchkunst.info oder ganz einfach der Besuch im Lyrik-Kabinett München vom 16. bis zum 18. November 2012. Sie werden erstaunt sei, welche Schätze Sie an den Rändern der Gutenberg-Galaxis heben können.

Reinhard Grüner