Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Die große Kunst des kleinen Formats

Eine bibliophile Reise durch die Künstlerbuchlandschaft der neuen Bundesländer

In den Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer, als die Grenzen nicht nur für Menschen, sondern auch für die künstlerischen Produkte der jungen Generation durchlässig wurden, erwachte langsam das Interesse an den sog. "Vorwendebüchern" aus den 80er Jahren. Natürlich wußten die Sammler vom hohen Stellenwert illustrierter Literatur in der alten DDR, waren Namen wie Karl-Georg Hirsch, Bernhard Heisig und Willi Sitte auch hierzulande ein Begriff, obgleich manche Kritiker sie gerne generalisierend mit dem Etikett "Staatskünstler" versahen. Dabei stellten diese Kritiker zwar das System in Frage, aber hinterfragten nicht den Künstler und seine private Mythologie. Aber wieviele westdeutsche Sammler waren mit Künstlern der jüngeren Generation, wie Guillermo Deisler, Wolfgang Henne, Carsten und Olaf Nicolai, Klaus Süß und Ulrich Tarlatt vertraut? Nur wenige, da die meisten von ihnen im Untergrund operieren mußten, mit den Problemen der Materialknappheit und dem Umgehen von erforderlichen Druckgenehmigungen befaßt waren und nie genau wissen konnten, ob ihr Tun das Mißfallen des Staatsapparates erregen und wenigstens für einige Zeit das künstlerische Schaffen seiner Basis berauben würde. Vorbei, vergessen. Fünf Jahre später gibt es nur noch wenige Künstler und Verleger, die die Umbruchsphase der Nachwende überdauerten. Im folgenden sollen einige ausgewählte Editionen mit ihrer Konzeption an einigen Beispielen - vom südlichen Thüringen bis hinauf nach Mecklenburg-Vorpommern - vorgestellt werden. Zudem sollen zukünftige Projekte, die gerade in Arbeit sind, umrissen werden. Bezug genommen wird ausschließlich auf originalgrafische Bücher und Künstlerbücher, bei denen das künstlerische Element dominiert, wie auch auf Bücher mit Unikatcharakter - alle in minimalen Auflagen erschienen.

Die burgart-presse (1) im schönen Thüringer Städtchen Rudolstadt mit seiner bemerkenswerten Heidecksburg wird von dem Verleger, Sammler und Kustos Jens Henkel geleitet. Henkel, als Sammler und Bibliograph - die umfassendste Bibliographie über Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften der DDR (2) stammt aus seiner Feder - bestens mit Schriftstellern und Künstlern bekannt, gelingt es immer wieder, die unterschiedlichsten Literaten, Künstler und Drucker zusammenzuführen, deren gemeinsame Arbeit nach langen Monaten schließlich Ergebnisse hervorbringt, die in ihrer Geschlossenheit erstaunen und durch ihren zeitgeschichtlichen Bezug einen künstlerischen Kommentar zu unserer Zeit abgeben. So beschäftigt sich der 4. Druck der Presse EINSCHLÜSSE AUFBRÜCHE mit den Tagebucheintragungen Harald Gerlachs, die dieser zwischen Oktober 1989 und März 1990 skizzierte, und in denen er seine Gedanken und Gefühle zur bislang letzten Deutschen Revolution aufzeigte. Den Texten beigegeben sind sieben handkolorierte Originalradierungen von Alfred Traugott Mörstedt, deren differenzierte Geometrie eine Räumlichkeit kreiert, die den Text auf einer abstrakten Ebene weitermalt. Der 5. Druck der Presse ABC-DRUCKSACHEN ist das Ergebnis der langjährigen Freundschaft zwischen den Künstlern Wolfgang Henne und Steffen Volmer. In der Tradition der Nonsens-ABC-Bücher karikieren sie in absurden und frechen Wortspielen die ungeliebte Realität ihrer Zeit, den Sprachmißbrauch und die Ordnungsmanie. Mit über 30 (zum Teil ausklappbaren und geprägten) Originalgrafiken (Siebdrucke, Linolschnitte und Lithografien) ist dies zur Zeit wohl eines der voluminösesten Künstlerbücher mit einem hervorragenden Preis-Leistungs-Verhältnis. Friederike Mayröcker und Olaf Nicolai gestalteten den 8. Druck der Presse Nimbus der Kappe. Zwei gegenständige Buchblöcke, Seiten mit Ausstanzungen und Mehrfachfaltungen geben dem Betrachter die Möglichkeit, Bild und Wort auf die unterschiedlichste Weise zu kombinieren. Von den meisten Büchern der burgart-presse gibt es A-, B- und C-Ausgaben, die sich durch diverse Beilagen wie Originalhandzeichnungen und handschriftliche Texte unterscheiden. Im kürzlich erschienenen Verlagsalmanach 5 JAHRE BURGART sind alle bislang erschienenen Ausgaben verzeichnet und mit zahlreichen Bildbeispielen illustriert. Gerade in Arbeit ist der schöne Text TINA ODER ÜBER DIE UNSTERBLICHKEIT von Arno Schmidt mit Originallithografien von Helge Leiberg (10. Druck) und Harald Gerlachs ECCE HOMO mit zahlreichen großformatigen Originalradierungen und Prägedrucken von Michael Morgner. Von diesem 12. Druck ist jetzt schon die Vorzugsausgabe völlig und die Ausgabe B zum größten Teil durch Vorbestellungen vergriffen. Es muß auch noch darauf hingewiesen werden, daß Jens Henkel für die Galerie oben (Chemnitz) seit 1985 die Buchreihe Reflexionen herausgibt, in der ein Künstler jährlich die Gelegenheit erhält, sich in Bild und Text darzustellen. Die bislang vertretenen Künstler sind Mörstedt, Ranft, Henne, Sagert, Tarlatt, Hussel, Volmer, Weidensdorfer, Wegewitz und im abschließenden Band X der Reihe, der 1995 erscheinen soll, der Annaberger Künstler Carlfriedrich Claus - ein würdiger Abschluß dieser Grafikbuchreihe, die 1985 in der DDR begann und zehn Jahre später in der Bundesrepublik Deutschland endet.

Im September 1990, einige Wochen vor der Wiedervereinigung, gründete Henry Günther in Ostberlin seine Edition Balance (3). Inzwischen lebt und arbeitet auch er in Thüringen, in der Stadt Gotha. Bislang sind in seiner Edition fünf Bücher erschienen, die im September und Oktober dieses Jahres im renommierten New Yorker Center for Book Arts am Broadway dem amerikanischen Publikum präsentiert werden. Henry Günthers Künstlerbücher knüpfen formal an die Tradition der klassischen Bibliophilie an, gehen aber inhaltlich über diese hinaus: Grundsätzlich werden Erstveröffentlichungen kritischer Texte publiziert und von jungen, aber bereits bekannten Künstlern bebildert. Der 1. Druck Das Gleichmaß der Unruhe versammelt Texte und Grafiken zur Wiedervereinigung - Texte von Kerstin Hensel, Johannes Jansen, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Gabriele Wohmann u.a., Grafiken von Guillermo Deisler, Dieter Goltzsche, Gil Schlesinger, Ulrich Tarlatt, Ruth Tesmar u.a. Die Vorzugsausgabe dieses Bandes wurde übrigens von allen Schriftstellern signiert. Der 3. Druck der Edition Balance, Gabriele Wohmanns Erzählung Sidonie, wurde von Guillermo Deisler, einem wichtigen Vertreter der konkreten Poesie, mit Originalradierungen und Originalsiebdrucken versehen, deren Bildlichkeit sich immer mehr reduziert auf sprachliche Chiffren, so daß sich Bild und Text annähern. Im Band Ausflocken (2. Druck) evoziert der junge sprachgewaltige Berliner Schriftsteller Johannes Jansen eines der dichtesten Bilder vom Leben im Sozialismus, und der Maler Wolf Spies schuf dazu Originalzeichnungen, die jedes der nur 35 Exemplare zum Unikat machen. Für den Herbst ist ist das Buch Augenpfad mit Texten von Kerstin Hensel, Originallithografien von Angela Hampel und der Typografie von Thomas Glöß geplant. Projekte mit Carsten Nicolai und Durs Grünbein stehen an.

Die sächsische Metropole Leipzig wird seit jeher für den hohen Standard ihrer Buchkunst gerühmt, ist sie doch Sitz der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Veranstaltungsort der Buchmesse und der im gleichen Zeitraum stattfindenden Internationalen Ausstellung für Künstlerbücher und Handpressendrucke. Der 1959 geborene Frank Eißner machte hier 1989 sein Diplom und begann anschließend mit dem Aufbau seiner Frank Eißner Handpresse (4). Typisch für diese Presse ist die starke Betonung der grafischen Technik des Holzschnitts. Frank Eißner sucht sich dafür altes, schwer zu bearbeitendes Holz mit mehr oder weniger starken Gebrauchsspuren, sogar Farbresten, und bezieht die Strukturen des unbehandelten Holzes in seine Arbeit ein. Sein letztes Buch ist auch sein bislang monumentalstes: Die Offenbarung des Johannes in einer Auflage von nur fünf Verkaufs- und drei Künstlerexemplaren mit Satz und Layout von Karin Künzel. Über 20 ganz- bzw. doppelseitige großformatige Originalfarbholzschnitte, über die teilweise der Text gelegt wurde, gestalten dieses zeitlose Thema mit größter Intensität auf eine völlig neue Weise und zeigen, welche Bedeutung dem Holzschnitt, der seit Grieshaber ein Schattendasein fristet, in unserer Zeit zukommen kann. Nicht verwunderlich also, daß Frank Eißner einer von etwa 30 Künstlern ist, die eingeladen wurden, im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum bei der Eröffnungsausstellung des neuen Generaldirektors Dr. Großmann von August bis November 1994 ihre Werke zu präsentieren. Der Künstler beschäftigt sich auch mit der Verbindung von Kunst und Musik, und eines der für diese Phase typischen Werke ist das Buch Chopin: Ballady, bei dem auch der Text ins Holz geschnitten wurde. Die gleiche Arbeitsweise verwendete Eißner übrigens auch bei den Bildern zu Novalis' Hymnen an die Nacht, zu denen er bislang zwei Bände, die 2. und 6. Hymne, schuf. In der Planung befinden sich gerade zwei Unikatbücher mit Originalholzschnitten zu Texten des Frühexpressionisten Ernst Stadler (Gang in die Nacht), der in "Der Aufbruch" schon 1914 für die Symbiose von Kunst und Realität eintrat. Anschließend soll zu diesem Text eine kleine Auflage mit anderern Originalholzschnitten erscheinen.

Bei den Leipziger Drucken (5), herausgegeben vom 1991 wiedergegründeten Leipziger Bibliophilen-Abend, handelt es sich nicht um eine Edition wie die oben dargestellten. Vielmehr knüpft diese bibliophile Vereinigung an die Tradition des von 1904 bis 1933 bestehenden bibliophilen Vereins gleichen Namens an. Neben zahlreichen gesellschaftlichen Aktivitäten, bei denen immer das Buch im Mittelpunkt steht, wurde bis jetzt jedes Jahr eine bibliophile Edition vorgelegt, originalgrafisch illustriert und in den Werkstätten des Instituts für Buchgestaltung an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig hergestellt. Der erste dieser Titel, Rote Wut und schwarze Galle, ist eine Anthologie zu deutschen Befindlichkeiten in der Zeit der Wende, illustriert mit Originalholzstichen von Karl-Georg Hirsch. Im 2. Druck Die Abtei Thelem wie sie Gargantua für den Mönch erbauen ließ im Land Utopia, mit Originalgraphiken von Reinhard Minkewitz, kehren die Herausgeber zu einem grundlegenden Quellenwerk der Utopiegeschichte zurück - nach dem Scheitern der letzten modernen Utopien mehr als verständlich. Der 3. Druck mit dem schlichten Titel Die Zauberflöte birgt ein deftiges Erotikon, das zum ersten Mal in der Weimarer Republik in kleiner Auflage publiziert wurde. Die zahlreichen Originalholzstiche von Karl-Georg Hirsch begleiten die Verse in aller Deutlichkeit. Die jeweils zehn ersten Exemplare der Leipziger Drucke sind übrigens Vorzugsausgaben, und es versteht sich von selbst, daß jede dieser Nummern in festen Sammlerhänden ist und eine Warteliste wenig Hoffnung macht, daß man diese begehrten Raritäten jemals erwerben kann. Als Publikation für dieses Jahr ist das Buch von Georg Werth Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski mit Originalschablithografien von Rolf Münzner in Arbeit.

Die nächste Station unserer Reise ist das Bundesland Sachsen-Anhalt. Hier entstehen in dem Städtchen Bernburg die spektakulären Avantgarde-Künstlerbücher der Edition Augenweide (6). Verantwortlich zeichnen der Künstler Ulrich Tarlatt (Bernburg) und der Schriftsteller Jörg Kowalski (früher Halle, jetzt Dobis). Bei dieser Edition handelt es sich um eine der wenigen Pressen, die mit ihrer Arbeit zu DDR-Zeiten begann, nämlich 1987, und seitdem ohne Unterbrechung kontinuierlich jährlich mindestens ein bis zwei Drucke vorstellt. Was die Edition Augenweide auch noch von allen anderen Pressen unterscheidet, ist die Objekthaftigkeit ihrer Bücher. Durch die Kombination der unterschiedlichsten Materialien wie Holz, Blei, Pappe, Papier, Schiefer und Filz entsteht ein Gesamtkunstwerk, das sich auch haptisch, sinnlich erfahren läßt. Dies ist jedoch mehr als nur billiger Effekt, denn die Texte karikieren, spießen auf, machen Lust und erlauben dem Unterbewußtsein, sich in den archaischen Primitivismus der Bilder einzuklinken. Der Bücherwächter, das kleinste Buch der Edition (15 x 7,5 cm) aus dem Jahre 1993, mit dem gleichnamigen Gedicht von Borges und Bildern von Ulrich Tarlatt, kontrastiert die Ursprünge unserer europäischen Kultur mit der Welt des globalen Banking. Die auf den bunt aquarellierten Untergrund gedruckten Holzschnitte sind Wiedergaben der Linear B-Schrift, der frühesten indogermanischen Sprache in Europa, Druckträger sind originale griechische Bankakten. Der Einband des Büchleins ist aus hellbraunem griechischen Pappkarton, und am Büchrücken hängt eine kleine Scherbe aus Knossos an einer Schnur. Das 1991 geschaffene Künstlerbuch Corse ist nicht weniger spektakulär. Als Ergebnis der ersten längeren Reise nach der Grenzöffnung entsteht ein Werk mit sieben Originalgouachen, zehn Originalradierungen und 23 Originalholzschnitten, die die Urgewalten korsischer Natur und die Rolle des Menschen in ihr in Bild und Wort reflektieren. Diese mythische Dimension wird in einem Einband aus Graupappe mit Metallbeschlägen und einem handgeschnitzten Totem, das als Buchrücken dient, wieder aufgenommen. Es gelingt so die vollkommene Einheit von Inhalt und Form. Konikleta, der Hasenjäger (1992), beschäftigt sich mit den archaischen Strukturen der bretonischen Landschaft (Originallithografien von Ulrich Tarlatt, Texte von Jörg Kowalski). Der Einband besteht aus schweren Schieferplatten, geliefert wird das Werk in einem Holzkasten, dessen Deckel mit genau den Schnüren befestigt ist, die französische Zeitungsfrauen zum Zusammenbinden ihrer Zeitungen verwenden. Die Edition Augenweide bietet aber auch im alljährlich erscheinenden Almanach Common Sense (seit 1989) ein wichtiges Forum für andere Künstler, ein experimentelles Spielfeld, auf dem sich tummeln kann, wer dazu eingeladen wird. Bis jetzt waren das mehr als 110 Beteiligte - literarischer und künstlerischer Internationalismus pur. Eines der aufwendigsten Projekte der Presse ist gerade in Arbeit: das deutsch­russische Künstlerbuch Waggon, mit 40 Originallithografien von vier deutschen (Anette Groschopp, Beate Kamecke, Christian Riebe, Ulrich Tarlatt) und vier russischen bzw. GUS-Künstlern (Oleg Dergatchov, Julia Kissina, Leonid Tishkov, Sergej Yakunin). Jeder Künstler hat die Aufgabe, fünf Texte aus der Literatur des anderen Landes auszuwählen und diese künstlerisch zu verarbeiten. Der Buchblock des großformatigen Bandes wird geteilt, so daß zahlreiche Konbinationsmöglichkeiten zwischen den Bildern und Texten oben und unten entstehen.

Kennern avantgardistischer Literatur ist Guillermo Deisler (7), in Chile geboren und viele Jahre in der DDR lebend, ein Begriff. Der in Halle ansässige Dichter und Maler ist ein wichtiger Protagonist visueller Poesie. Als künstlerische Plattform ist die von ihm herausgegebene Sammelmappe UNI/vers (;) Visual and Experimental poetry portfolio zu sehen, die seit 1987 Beiträge von Künstlern aus Asien, Australien, Amerika und Europa zu einem bestimmten Themenkomplex oder auch frei vereint. "... eingeladen sind künstler, die bilder und worte gemeinsam 'ver-dichten' zu einer poetischen Gestalt und sie der täglichen über-flut an informationen entgegenstellen ..." (8) Bereits erwähnt wurden seine die Grenzen von Schrift und Bild überschreitenden Originalsiebdrucke und Originalradierungen zu dem Buch Sidonie in der Edition Balance. Gerade fertiggestellt wurde - in Zusammenarbeit mit Ulrich Tarlatt - das Künstlerbuch geradeaus von nirgendwo scheint nicht weiter als sonst mit Texten und Schriftblättern, Originalmalerei und Originalzeichnungen beider Künstler. Der in einer Auflage von nur vier Exemplaren erschienene Band 50 mal Liebe bringt Varianten des Wortes "Liebe" in unterschiedlicher Anordnung; elf aquarellierte Originalzeichnungen, aufkaschiertes Seidenpapier und der Schuber aus Putzleder machen das Buch zu einer bibliophilen Kostbarkeit.

Setzen wir unsere Reise fort in den Ostteil der Kunstmetropole Berlin. Im Sommer 1985 gründete hier der Dichter Maximilian Barck die unabhängige Künstlergruppe Maldoror (9), die als erstes Projekt die Surrealismus-Collage Der Spiegel eines Augenblicks mit Texten von Lautréamont, Breton, Rimbaud u.a. vorstellte. Drei Jahre später wurde von ihm die Künstlergruppe Herzattacke gegründet, deren künstlerische Arbeit seit 1988 in der gleichnamigen Kunstzeitschrift dokumentiert wird. Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift (Auflage 95) ist in Deutschland wohl eine der interessantesten Publikationen auf diesem Gebiet, da sie pro Ausgabe bis zu 30 signierte Originalbilder (Originalzeichnungen, -zinkografien, -siebdrucke, -linolschnitte, -fotografien usw.) enthält. Die dazugehörigen zahlreichen Texte in jedem Band (u.a. von Gert Neumann, Maximilian Barck, Ina Strelow und übersetzte Arbeiten von Lew Schestow, Saint-Pol-Roux) machen jede Ausgabe zum Spiegelbild der jungen Ostberliner Kunstszene. Besondere Würdigung erfahren die poetischen und philosophische Werke von Georges Bataille, Lautréamont und Friedrich Nietzsche. "Revolte" und "Subversivität" sind die Schlüsselbegriffe, um das Ziel der Edition im Hinblick auf das künstlerische Schaffen und die Vermarktungsstrategien zu fassen: Man ignoriert bibliophile Kriterien, man publiziert kontroverse Texte, man verweigert sich den üblichen Marktmechanismen. Diese Prinzipien treffen auch auf die Buchproduktion der Edition Maldoror zu. Gerade sind die ersten Bände der neuen Reihe Aletheia in der Edition Quatre en Samisdat erschienen - Nachdichtungen zentraler französischer Texte (z.B. von Bataille), bebildert mit Fotografien, die in der Leipziger Lichtdruck-Werkstatt aufwendig gedruckt wurden, in einer Auflage von 99 vom Fotografen handsignierten Exemplaren. Man schreckt auch vor Ausgaben nicht zurück, die den traditionellen Rahmen des Buches sprengen: In der bemalten Kassette Autistische Hieroglyphen von 1993 liegen beispielsweise fünf großformatige signierte Originalfarbzeichnungen von Mikos Meininger zu Texten von Maximilian Barck. Jede der 20 Kassetten hat also gewissermaßen Unikatcharakter, obwohl sie auch gleichzeitig - in Teilen wenigstens - reproduzierbar ist.

Uwe Warnke (10) aus Berlin, 1991 Preisträger des V.O. Stomps-Preises auf der Minipressenmesse Mainz, ist nicht nur in Fachkreisen bekannt. Gab er doch schon seit 1982 die subversive Künstlerzeitschrift ENTWERTER / ODER heraus, die zeigte, daß es möglich war, auch unter extremsten Bedingungen Kunst zu schaffen. Eines der letzten Hefte, die Nummer 55, trug den Titel OV Stasi und beschrieb die Erfahrungen, die manche ostdeutschen Künstler bei der Lektüre ihrer Stasi-Akten machten. Schade, daß aufgrund der privaten Zirkulation nur sehr wenige in den Genuß kommen, diese Kunstzeitschrift zu lesen. Eine Ausnahme ist vielleicht das Jubiläumsheft Nr. 50, das in einer Auflage von 75 Exemplaren erschien. Bemerkenswert ist auch die 12. Sonderausgabe des ENTWERTER / ODER: Kennwort : Sonnenschein. Sie beschäftigt sich mit dem Mißbrauch ostdeutscher Hoffnungserwartungen in der Wendezeit und zeigt am Einzelfall, wie die allgemeine Linie war. So viel kurz zum Inhalt: Ein westdeutscher Trinker fährt in der Umbruchszeit nach Ostberlin, um sich dort billig zu alkoholisieren. In diesem Zustand schreibt er nun Karten an seinen Freund in Westberlin, in denen er seine Zustände schildert: "bin schön beim SAUFEN". Diese Karten sind dem Heft in Kopie und einige im Original beigegeben - Dokumente deutsch-deutscher Befindlichkeit. Uwe Warnke ist aber auch auf dem bibliophilen Sektor tätig: Der Band Brauwolke beispielsweise enthält Papiergüsse von John Gerard und Bilder von Klaus Zylla.

In Mecklenburg-Vorpommern befindet sich die Edition Albrecht (11), die letzte Presse, die wir auf unserer Künstlerbuchreise besuchen wollen. Eduard Albrecht-Hagen aus Krummenhagen bei Stralsund war zu seinen Akademiezeiten an der Leipziger Hochschule Schüler von Bernhard Heisig, bei dem er die Kunst des Porträtzeichnens bis zur beängstigenden Perfektion beherrschen lernte, und Karl-Georg Hirsch, bei dem ihm die absolute Präzision der Holzschneidetechnik vorgeführt wurde. Nur zwei bibliophile Bücher produzierte die Presse in vielen Jahren: 1987 den Band Das Testament des Ferkels mit 30 Originalholzstichen und von Jana Albrecht kalligrafiertem Text - die humorvolle Geschichte über das traurige Ende eines Schweins nach der Textgrundlage einer Testamentsparodie eines unbekannten Autors um 100 n. Chr. 1990 erschien schließlich Geboren 1930 in Deutschland - 60 Jahre deutscher Geschichte am Beispiel des Lebensweges von Eduard Albrechts Vater. 60 Originalholzschnitte paraphrasieren die wechselhafte deutsche Geschichte in bewegenden Bildern von der Spätphase der Weimarer Republik über die DDR bis hin zur Wiedervereinigung. Es war eines der ersten bibliophilen Bücher, das sich auch mit den politischen Veränderungen nach der jungen Novemberrevolution auseinandersetzte, am Einzelbeispiel das Allgemeingültige aufzeigte und so eines der wohl wichtigsten Künstlerbücher dieser Epoche deutscher Geschichte wurde.

Zum Schluß sei angemerkt, daß alle diese Künstler sehr gerne bereit sind, über ihre Arbeit zu sprechen und zu informieren - schon alleine deswegen, weil Kommunikation auch die Basis ihrer Arbeit ist. Eduard Albrecht-Hagen und seine Frau Jana haben aus dieser Tatsache die Konsequenzen gezogen und vor kurzem in der Stralsunder Badenstraße 44 ihr Galerie Café Art eröffnet, in dem man sich zum geselligen Zusammensein bei Kaffee und Kunst treffen kann.

Reinhard Grüner

Anmerkungen

  1. Jens Henkel (burgart-presse), Schloßbezirk 1 / 48 - 54, 07407 Rudolstadt. (zurück)
  2. Jens Henkel und Sabine Russ, D 1980 D 1989 R. Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften im Eigenverlag. Merlin Verlag, 1991. (zurück)
  3. Henry Günther (Edition Balance), Brunnenstraße 12, 99867 Gotha. (zurück)
  4. Frank Eißner (Frank Eißner Handpresse), Weißestraße 22, 04299 Leipzig. (zurück)
  5. Herbert Kästner (Leipziger Bibliophilen-Abend), Philipp-Rosenthal-Str. 66 / 146,
    04103 Leipzig. (zurück)
  6. Ulrich Tarlatt (Edition Augenweide), Dürerring 12, 06406 Bernburg,
    vertreten durch Edition F. Despalles (Edition Augenweide), Kirchstraße 44, 55124 Mainz. (zurück)
  7. Guillermo Deisler, Kirchnerstraße 11, 06112 Halle. (zurück)
  8. Guillermo Deisler, UNI / vers (;). Visuelle und experimentelle Poesie international. Halle / Saale, 1994, innere Umschlagseite (Katalog). (zurück)
  9. Rainer Tschernay (Edition Maldoror), Lychener Straße 79, 10437 Berlin. (zurück)
  10. Uwe Warnke, Wühlischstraße 30, 10245 Berlin. (zurück)
  11. Eduard Albrecht-Hagen (Edition Albrecht), Dorfstraße 27, 18442 Krummenhagen. (zurück)