Grenzüberschreitungen
Bemerkungen zu der Ausstellung moderner russischer Künstlerbücher
"Die Bücher als Narkotika"
Es scheint mir, als hätten diese
Gegenstände ein Leben ganz eigener Art; als verwandelten sie
sich unter den interessierten Blicken des Betrachters in Wesen aus
Fleisch und Blut, die darauf aus sind, den Dialog mit ihrem Gegenüber
provozieren zu wollen. Die Sprache ist hier von den singulären
Künstler- und Malerbüchern aus dem riesigen Reich des
jetzt zerfallenen Sowjetimperiums, die selbst auf Laien so unvermittelt
wirken, daß dies nur erstaunen kann. Obwohl Künstlerbücher
nur eine marginale Linie des Kunstschaffens darstellen und leider
noch kaum in den großen Kontext der Kunstgeschichte integriert
sind, ergo keine große Öffentlichkeit haben, sind sie
für den Schaffensprozeß osteuropäischer Künstler
zentrales Anliegen, da das Medium Buch viel schneller und unauffälliger
als freie Arbeiten das Wort- und Weltbild des Künstlers transportiert. Als
nach dem Fall der Berliner Mauer die Produktionen der DDR-Eigenverlage
zum ersten Mal im März 1990 auf der Alternativen Buchmesse
Leipzig zu sehen waren und bereits sechs Wochen darauf im Offenbacher
Klingspor-Museum erstmals einer größeren Öffentlichkeit
präsentiert wurden, ahnten noch die wenigsten, was die kritischen
und unangepaßten Künstler östlich der polnischen
Grenze an ganz eigenen Konzepten entwickelt hatten. Erst die schnelle
Auflösung traditioneller Machtstrukturen, die einherging mit
der Gründung und Verfestigung autonomer Bewegungen in den neu
erstandenen GUS-Staaten, ermöglichte eine Reihe von Ausstellungen
innerhalb und außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. 1990 organisierte
Michail Karasik in St. Petersburg eine Ausstellung moderner druckgraphischer
Künstlerbücher in Rußland ("Avantgarde und
die Tradition der russischen Druckgraphik"), 1991 wurden durch
Sergej Radlov in der Ausstellung "Bibliothek des Wahnsinns"
in Moskau Unikate und konzeptuelle Bücher präsentiert
und 1993 schließlich zeigte man im französischen Uzerche
die große Schau "Livres d'artistes russes et sovietiques".
Darüber hinaus erfolgten zahlreiche weitere Ausstellungen und
Ankäufe durch renommierte Museen und engagierte Privatsammler.
Was ist nun der Grund für diese
enorme Faszination? Bei den meisten dieser Künstlerbücher
handelt es sich um Unikate, die einen äußerst komplizierten
Herstellungsprozeß durchlaufen und schon aufgrund ihres Erscheinungsbildes
die Aufmerksamkeit des Betrachters erregen. Julia Kissina, die ihre
Bücher gerne auch mit "Julia fon Kissin" signiert,
schafft eine Buchwirklichkeit, die nur durch die Arbeit des Lesers
überhaupt zum Leben gebracht wird. Eingefärbte Bögen
mit Zeichnungen und Collagen, ausklappbare und gefaltete Papierschnitte
fordern dazu auf, mit der Text- und Bildebene zu spielen, sie zu
verändern und neu zu gestalten. Romantische Bilderbücher
also, die Texte der Weltliteratur einbeziehen, diese überlagern,
ironisieren oder weiterdichten und im künstlerischen Infantilismus
der russischen Avantgarde verwurzelt sind. Die Titel dieser Werke
entsprechen den künstlerischen Vorgaben: Serie nach Photos
von Lewis Carroll, Lolita und der Pilot, Das Buch über den
schrecklichen Blumenkönig, Teufels Kindheit.
Auch Michail Karasik, der 1993 im
Gutenberg-Museum Mainz eine große Ausstellung hatte, läßt
sich von großen Dichtern wie Boris Pasternak, Anna Achmatowa,
Daniil Charms, Franz Kafka u.a. anregen. Seine Bücher, in Kleinstauflagen
gedruckt, sind zumeist lithographiert und entsprechen rein äußerlich
unseren Vorstellungen vom traditionellen Buch. Aber auch er transportiert
das Buch ins Objekthafte durch Einbeziehung ausklappbarer Seiten,
Collagentechnik und Transparentfolien. Es fällt auf, daß
Karasik immer wieder auf die Texte von Kafka und Charms zurückgreift,
die Absurdität zum Thema von Wort und Bild macht, also auf
die Grunderfahrung russischer Intellektueller zu Zeiten des kommunistischen
Terrors verweist. Dieser Verweis geschieht spielerisch, aber schon
allein deshalb potenziert sich der Schrecken der Buchstaben.
Vladimir Suljagin ist inzwischen
mit seinen Arbeiten in England sehr bekannt geworden. Wie Karasik
steht auch er in der Tradition der russischen Avantgarde. Während
Karasik jedoch ähnlich den Futuristen Majakowski und V. Burljuk
mit dem Medium der Lithographie und der Collage arbeitet, erinnern
die klassisch reinen Werke Suljagins an die Ausgaben der Konstruktivisten
Malewitsch und Rodtschenko. Die Künstlerbücher Rußland
ohne Mandelstam, ein Leporello, das in seiner farblichen und
formalen Reduktion in der Abstraktion wirkt, oder das Künstlerbuch
12 Apostel, bei dem Silhouetten klassischer russischer Ikonen
in den weißen Karton geschnitten sind, zwingen den Betrachter
den gedanklichen Diskurs - auch über den christlichen Aspekt
dieser Arbeiten - förmlich auf. Das Buch wird zur Skulptur,
und diese übernimmt die Vermittlung des Textes ohne Text.
Sergej Yakunin aus Moskau, der als
Bühnenbildner arbeitet, fasziniert in seinen Werken durch die
grenzüberschreitende Synthese unterschiedlicher Bereiche. Sein
Objekt Charms besteht aus einem Tragekoffer aus Karton und
Pappmaché, der den Buchblock enthält, dessen bemalte
und beschriebene Seiten mit zahlreichen kinematischen Einbauten
wie Schriftrollen und Kurbeln versehen sind. Ein Kunstwerk also,
das die surreale verdrehte Welt des bei der Blockade Petersburgs
durch die Deutschen jung verstorbenen Dichters auf ideale Weise
versinnbildlicht. Diese Hommage an Charms ist sicher nicht rein
zufällig, wird dieser von vielen jungen russischen Künstlern
als Metapher für das geschundene und verfolgte Leben in Zeiten
der Diktatur der Macht oder des Geldes gesehen. Das Kupferbuch
mit Rilkes Text Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph
Rilke enthält bedruckte und bemalte Seiten aus Papier mit
gravierten und chemisch bearbeiteten Metallseiten und ist Beispiel
dafür, welche künstlerischen Potenzen in der jungen russischen
Avantgarde freigesetzt werden. Im Unterschied zur westlichen Tradition
des Künstlerbuches erinnern Yakunins kinematischen Werke an
archetypische Skulpturen, entstanden aus der Verbindung ausgetüftelter
Bastelei mit genialem Erfindungsreichtum.
"Wir haben unterschiedliche
Vorstellungen über moderne Kunst und Kunst überhaupt,
aber unsere Verbindung besteht darin, daß diese Bücher
gemacht werden" sagte Julia Kissina kürzlich in einem
Gespräch, und wie könnte man es noch einfacher und schöner
sagen?
Reinhard Grüner
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