Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Gedanken zur Bibliophilie Ost

Dem sensiblen Connaisseur schöner Bücher sind die Produkte, deren Anfänge im sog. Untergrund der alten DDR lagen, ein Greuel: in vielen Fällen sind die Texte fotokopiert, die Illustrationen serigraphiert, das Papier eher durchschnittlich. Und dennoch können diese Werke eine vorsichtige Neuausrichtung bibliophiler Kriterien verursachen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer brachen die Produktionen der DDR-Eigenverlage aus ihrem geschlossenen System aus: Auf der Alternativen Buchmesse Leipzig März 1990 wurden auch Künstlerbücher vorgestellt, schon sechs Wochen später waren sie auf der 1. Typen-Messe im Offenbacher Klingspor-Museum erstmals im größeren Rahmen in der Bundesrepublik Deutschland zu sehen, und schließlich erhielten sie Mai/ Juni 1991 im ehrwürdigen Mainzer Gutenberg-Museum eine angemessene Präsentation. Den vorläufigen Höhepunkt des zunehmenden Publikumsinteresses stellt wohl die von dem langjährigen Sammler Jens Henkel im Merlin-Verlag herausgegebene Bibliographie "D 1980 D 1989 R. Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften im Eigenverlag" dar.

Zunächst erstaunt man über die Vernachlässigung bibliophiler Normen, ist aber doch von der expressiven Wildheit vieler dieser Bücher fasziniert. Um offizielle Stellen zu umgehen, wurden Texte oft heimlich fotokopiert oder serigraphiert, fungierte u. U. selbst Packpapier als Druckträger. Viele der oftmals unbekannten Autoren nahmen in ihren Texten immer wieder Stellung zu den Befindlichkeiten einer jungen Generation, die den Glauben an die sozialistische Utopie verloren hatte und deren Aufbegehren sich bruchstückhaft manifestierte - nicht allein als Protest gegen etwas, sondern auch als Einfordern von etwas.

Bibliophile Maßstäbe können m. E. dann zweitrangig werden, wenn es darum geht, die eigene Bewegtheit aufzuzeigen, zu verarbeiten, müssen dies aber nicht, wie die künstlerische Ästhetik der Arbeiten Steffen Volmers sehr wohl beweist. Etwas provokant möchte man fragen, welchen Sinn es heute noch hat, im Angesicht globaler Bedrohungen, die in dieser Dimension in der Menschheitsgeschichte einzigartig sind, das "Hohelied Salomos" oder E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" zum unzähligsten Male wohlfeil zu illustrieren? Da entledigt sich doch die Bibliophilie jeder gesellschaftlichen Aufgabe und tritt mit dem Sammler nur noch die Flucht zurück an. Ich mache die Bedeutung der ostdeutschen Pressen, die die Wiedervereinigung überlebt haben, an genau dieser gesellschaftlichen Relevanz fest. Sicherlich werden Editionen wie die Edition Maldoror mit ihrer künstlerisch hochrangigen und kritischen originalgraphischen Zeitschrift "Herzattacke", die Edition Balance und die Burgart-Presse, die beide höchste bibliophile Traditionen mit aktuellen Texten zu verbinden verstehen, und die sorglos-sinnliche Ernsthaftigkeit der Edition Augenweide die Sammler finden, die sie verdienen.

Reinhard Grüner