Edition Augenweide
Die Edition Augenweide wurde 1987
in der ehemaligen DDR von dem Künstler Ulrich Tarlatt (Bernburg)
und dem Poeten Jörg Kowalski (Halle, jetzt Dobis) gegründet
und verstand sich als Initiative unabhängiger Künstler
und Literaten. Nach dem sozialistischen Kunstverständnis hätte
sie deshalb eigentlich nicht existieren dürfen, und so ist
die Geschichte dieser Presse bis 1990 auch die Geschichte von Bespitzelung
durch Künstlerfreunde, von Verrat und Zensur. Trotzdem konnten
sich Kowalski und Tarlatt in dem verendenden Staatswesen ihre Freiräume
schaffen und sich auch nach dem Deutschen November bis heute behaupten.
Die Edition ist eine von zehn Editionen, die schon zu DDR-Zeiten
konsequent und nicht nur sporadisch Künstlerbücher schufen,
von denen aber nur vier die Wiedervereinigung als eigene Edition
überlebten. Bis jetzt erschienen 22 Künstlerbücher,
die vielfältige Aspekte thematisieren: Da geht es beispielsweise
um Reisen von Tarlatt und Kowalski nach Korsika (Corse) und in die
Bretagne (Konikleta), in denen man den archaischen Strukturen alter
historischer Landschaften nachspürt, um politische Inhalte
(Des Kaisers Bart zum Barbarossajahr 1990, Cluster über die
Veränderung der Sprachklischees zwischen September 89 und April
90), um Erotisches in dem ersten Buch der Edition (Mein Zahn riesengroß
- erotische Träume von Männern) und schließlich
in froid & chaud. petite guide - einem Reiseführer in die
Hose - um die Karikierung des Genres des Sprachführers durch
Kontrastierung naiv-erotischer Bilder mit traditionellen Sprachmustern.
Seit 1989 gibt die Edition Augenweide auch den Almanach Common
Sense heraus, der nun schon zum siebten Mal auf nationaler und internationaler
Ebene die literarische und künstlerische Avantgarde versammelt.
Besonderes Kennzeichen dieser Presse ist die Verwendung unterschiedlichster
Materialien wie Filz, Blei, Schiefer, Pappe und Messing, die ihren
Künstlerbüchern den Charakter archaischer Relikte verleiht
und Gesamtkunstwerke im besten Sinn des Wortes entstehen läßt.
Es erstaunt nicht, daß diese Bücher, deren Gesamtauflage
sich zwischen 30 und 120 eingependelt hat, sehr schnell ihre Liebhaber
finden. So sind sie in wichtigen Privatsammlungen (Ruth and Marvin
Sackner Archive of Concrete & Visual Poetry, Miami Beach) und
öffentlichen Sammlungen (Deutsche Bibliothek Frankfurt am Main,
Museum für Buch- und Schriftkunst Leipzig, Bayerische Staatsbibliothek
München, Centre Pompidou, Paris, Getty Museum, Malibu, Victoria
and Albert Museum, London) zu finden.
Reinhard Grüner
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