Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Die Stadt

Gedanken über die Künstlerbücher Frank Eißners

  HÖLDERLIN  
  "Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne."
Ich bin noch nichts. Ich lebe noch. Ich lerne.

 
    Werner Kraft

"Leipzig/Oststraße 1993" - mit diesem handschriftlichen Vermerk Frank Eißners ist die aus einem Altleipziger Haus herausgebrochene ornamentale Stuckarbeit in die räumlich-zeitlichen Koordinaten seiner Heimatstadt eingefügt. Frank Eißner überreichte mir dieses Stück, das die aggressive Zerstörung seiner historisch gewachsenen Umwelt so symbolhaft verdichtet, damals wortlos. Diese Stadt Leipzig, in der der Künstler lebt und arbeitet, wird in den Büchern Frank Eißners eingefangen, zum fiktiven Raum gestaltet, in dem sich die Liebenden und Trauernden, die miteinander Sprechenden und Monologisierenden bewegen. Da die Stadt dabei ihre Koordinaten verliert, wird sie selbst zur Metapher.

Frank Eißner ist kein Purist. Das Holz, in das er schneidet, ist zumeist alt und trägt Spuren der Verwitterung, Spuren alter Farbaufträge. Die Strukturen dieses unbehandelten, schwer zu bearbeitenden Holzes, die so in die künstlerische Arbeit übernommen werden, geben den Bildern ihre unglaubliche Tiefe. Frank Eißner ist Ästhet. Das Papier, auf das er druckt oder zu seinen aufwendigen Handabreibungen verwendet, hat feinste Qualität und stammt häufig aus japanischen Papiermühlen mit jahrhundertealter Tradition. Aus einem Land, in dem das Wort für Papier und Gott gleich ist. Die Texte, mit denen Frank Eißner den harmonischen Dialog zwischen Wort und Bild evoziert, kommen zumeist aus der Romantik oder dem Expressionismus oder sind diesen Epochen nahestehend: Die Hymnen an die Nacht von Novalis, Chopins Ballady mit ausgewählten Lyrikelementen von Adam Mickiewicz, Ernst Stadlers Gang in der Nacht und schließlich die Apokalypse des Johannes, um nur einige zu nennen.

Diese Aufzählung soll Frank Eißner nicht in die Reihe der Buchkünstler stellen, die einen gesicherten klassischen Text ohne Copyrightansprüche suchen, um ihn zu illustrieren. Hier geht es um wesentlich mehr: zur Jahrtausendwende mit den Chiffren der Kunst auf den fortschreitenden Verfall politischer, wirtschaftlicher und ethischer Normen in Zeiten des Umbruchs hinzuweisen. Was war die Apokalypse des Johannes denn anderes als ein Mahn- und Trostbuch für die von Kaiser Domitian verfolgte Christengemeinde? Oder Novalis - versuchte er in seinen Hymnen an die Nacht nicht, die Macht des Todes durch das Wort des Dichters zu besiegen? Auch der schon zu Beginn des 1. Weltkriegs gefallene Ernst Stadler, einer der wichtigsten Vertreter des Frühexpressionismus, lebte in einer Krisenzeit von monumentalen europäischen Dimensionen, in der ihm die Einheit von Kunst und Wirklichkeit Mittel zum Weiterleben wurde. Die Künstlerbücher Frank Eißners atmen den Geist dieser Epochen und setzen leise Zeichen.

Der Künstler, der bildlich fassen will, was kaum zu benennen ist, erscheint als Getriebener, der mit seiner Zeit sorgsam umgeht. Er druckt keine großen Auflagen: fünf Verkaufsexemplare von der Apokalypse, zehn Stück vom Gang in der Nacht, 25 von den Hymnen an die Nacht. Daneben entstehen zahlreiche Unikatholzschnittbücher, Unikatholzschnitte und Holzschnitte in unikaten Varianten. Keine verschwenderische Produktion also, sondern sparsamer Umgang mit Material und Gefühl. Dieses Gefühl hat natürlich auch moderne Dimensionen: Für den Leipziger Bibliophilen-Abend verbildlichte er 1995 in der Reihe 24 x 34. Blätter zu Literatur und Graphik. Heft 23 den erstveröffentlichten Text Uwe Kolbes Spaß und Erinnern, bei dem er den Gleichklang von Lyrik und Bild als Triptychon gestaltet.

Das Gedicht Gang in der Nacht wurde im letzten Lebensjahr Ernst Stadlers veröffentlicht.

  Ich schreite wie

Durch Gärten.
Bin auf einem
Großen Platz.
Nebel hängt dünn und
Flimmernd wie durch
Silbernetz gesiebt -
Und plötzlich
Weiß ich -
Hinter diesen Fenstern
Dort schläft
Eine Frau,
Die mich einmal
Geliebt.

Hier ist die Stadt nicht vordergründige Kulisse, sondern Metapher für das Statische der zivilisatorischen Welt, gegen das die triebhaften Emotionen des Individuums prallen. So kann der eingangs erwähnte Stuck von der Leipziger Oststraße eine Ahnung davon geben, daß sich das Bild der Stadt zwar schmerzlich fühlbar verändert, aber für den empfindsamen Menschen dennoch ihre Rolle gleich bleibt. Frank Eißners Leipzig: schützende Heimat oder Leviathan?

Reinhard Grüner