Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Der Künstlerbuch-Almanach COMMON SENSE

Common Sense: "practical good sense gained from experience of life, not by special study" (Oxford Advanced Learner's Dictionary)

Was bringt Ulrich Tarlatt und Jörg Kowalski im Herbst des Jahres 1989 dazu, der ersten Ausgabe ihres neuen Almanachs den Titel Common Sense zu geben? Folgt man damit der weitverbreiteten Mode, die verheißungsvolle Idiomatik des großen überseeischen "Klassenfeindes" in die fragwürdig gewordene Sprachwirklichkeit der untergehenden DDR zu verpflanzen? Oder möchte man vielmehr in einer Zeit, in der das Gewohnte fremd wird, in der die freigesetzten Energien das gesellschaftliche Leben dynamisieren, ohne daß sich ein neues Regelsystem etablieren kann - möchte man da an den Common Sense, den "gesunden Menschenverstand" appellieren und im Rahmen der Kunst davor warnen, daß der "Schlaf der Vernunft" neue Monster gebären könnte?
Dezember 1994 erscheint das Künstlerbuch Common Sense mit Texten und zahlreichen originalgraphischen Bildern von 30 Beteiligten nun zum sechsten Mal. Die vorhergegangenen fünf Almanache enthielten etwa 160 künstlerische und literarische Beiträge von mehr als 110 Beteiligten. Die von Tarlatt und Kowalski eingeladenen Autoren stammen aus geographisch, historisch und kulturell stark divergierenden Ländern wie z. B. Rußland, Österreich, Kanada, Frankreich, Indien und natürlich dem wiedervereinigten Deutschland. Die soziale und künstlerische Positionierung der Beteiligten ist genauso unterschiedlich wie deren Herkunftsländer: relativ Unbekannte, angesehene Preisträger, Vagabunden, Hochschulprofessoren, Exilanten und Dichter des Regionalismus. Die Schöpfer dieses Almanachprojekts vertreten den künstlerischen und literarischen Internationalismus und verletzen dabei fortwährend die von Kunstwissenschaft und Kunstmarkt gesetzten Anstandsgrenzen: die künstlerische Avantgarde des Ostens wird einbezogen, offizielle Schreiben durch Stempelung ironisiert oder fiktiv realisiert - der subversive Anspruch ist jedem Band immanent. Jeder der Beteiligten erhält ein Exemplar des in 75 Exemplaren erscheinenden Almanachs, der kleine Rest geht wie viele Bücher der Edition Augenweide an Privatsammler und große Bibliotheken wie die Staatsbibliothek München, das Centre Pompidou, die Ford Foundation usw.

Themenbände sind Tarlatt und Kowalski suspekt, und so geben sie den eingeladenen Autoren völlige Freiheit in der Gestaltung ihres künstlerisch-literarischen Beitrags. Dennoch obsiegt nicht das Chaos-Prinzip, da sich im Längs- und Querschnitt die Struktur offenbart: Der Reihencharakter des Almanachs nimmt immer wieder ähnlich gelagerte Themen auf, die sich erst in der Reihung erschließen (z.B. IM-Problematik). Jeder einzelne Band steht aber auch für sich und wird durch seinen experimentellen Charakter strukturiert (Verwendung unterschiedlichster Materialien, experimentelle Literatur), den die immanente Subversivität postuliert.

Repräsentativ für die formale und inhaltliche Qualität der Beiträge sollen folgende Künstler und Schriftsteller stehen: Roger Hill aus East Sussex ("Künstler, Briefträger, Vater und Guinnesstrinker"), der 75 unterschiedliche Originalmalereien anfertigte, Pierre Bergounioux, einer der wichtigsten französischen Autoren der Nachkriegsgeneration, dessen Text "Himmelsrichtungen" speziell für diesen Almanach geschrieben und von Brigitte Burmeister übersetzt wurde, Anette Groschopp mit einem kolorierten Farbholzschnitt auf alten französischen Buchseiten, Reinhard Jeske mit seiner Kurzgeschichte "Der Eisenbahner" mit einem montierten Originalpapierhandtuch der Deutschen Reichsbahn, der Kunsthistoriker Hans-Peter Wittwer mit einem überaus einfühlsamen Text zu dem Bild der Gotik in den (beigebundenen) Holzschnitten von Thomas Ruch, der "East Zone Poetry Maker" Guillermo Deisler, der seine Dichtungstheorie auf den Punkt bringt, Joseph Beuys, den Klaus Staeck durch eine Kunstpostkarte ("es gibt Leute, die sind nur in der DDR gut", Joseph Beuys, 31.10.1985) würdigt, die Kopie eines Artikels aus der Mitteldeutschen Zeitung vom 27.10.1994 über die Spätfolgen der Wiedervereinigung ("Beißfreudige Vierbeiner heute nicht mehr gefragt. Nervenstarke Osthunde wahre Verlierer der deutschen Einheit") und schließlich Ulrich Tarlatt mit seinen sensiblen archaischen Farbholzschnitten auf Japanpapier.

"practical good sense gained from experience of life ... " eignet sich so schlecht nicht als Erklärung für die Namensgebung eines Künstlerbuchalmanachs, ist für das Team Tarlatt/Kowalski Kunst doch ein unabdingbares Element menschlicher Biographie und Ausdruck der existentiellen Situation jedes Menschen und eben nicht das Sublime, das ihm den eskapistischen Weg aus den Alltagsritualen weisen soll. Common Sense - die künstlerische Metapher für unser eigenes Leben?

Reinhard Grüner


P.S.: Dieser Artikel erschien ursprünglich als Pressemitteilung zur Publikation des Künstlerbuches COMMON SENSE 1994 und wird im Herbst 1995 im Forum Book Art veröffentlicht.