Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

'Common sense is not so common' (Voltaire zugeschrieben)

Gedanken zum fünfjährigen Jubiläum des Almanachs Common Sense

In seiner Ausgabe 45/1991 erwähnt das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, daß die Ausstellungsobjekte des Bernburger Künstlers Ulrich Tarlatt, darunter die Plastiken Geiler deutscher Adler und Lüstling, nach und nach aus dem Magdeburger Landtag verschwanden und erst nach vehementen Protesten des Künstlers wieder aus der Versenkung auftauchten. "Immer wieder begegnet uns mitten im Neuen das Alte", so wird dies von Jörg Kowalski im Almanach Common Sense 91 bewertet und mit Verwunderung festgehalten, daß bereits ein Jahr nach der Wiedervereinigung die totalitären Ordnungsprinzipien seines untergegangenen Vaterlandes durch die genauso rigide Zensur des neuen demokratischen Deutschland substituiert wurden.

Radikale Subversivität in unterschiedlicher Ausformung ist das Hauptkennzeichen des Künstleralmanachs Common Sense, den Jörg Kowalski (Halle) und Ulrich Tarlatt (Bernburg) nun schon zum fünften Mal herausgeben. Entstanden in den Wirren der deutschen Übergangszeit, ist er ein Produkt derselben und zugleich der Verweis auf Neues. Der politische Impetus ist dieser Publikation seit Anbeginn inhärent - sei es der Streit um den Geilen deutschen Adler, den Tarlatt Monate später alleine weiterficht, als er seine Version bei dem künstlerischen "Wettbewerb für einen neuen Adler für den Deutschen Bundestag in Bonn" einreicht und ihm mit Einheitsformular die Ablehnung übermittelt wird, ohne daß die zuständigen Gremien die lustvoll-bittere Satire des Künstlers wohl ahnen; sei es der fingierte Abschlußbericht über die Auflösung unseres Ministeriums für Staatssicherheit/des Amtes für Nationale Sicherheit des Armeegenerals Mielke im Common Sense 91, in dem es heißt: "Unsere fähigsten Mitarbeiter und Offz. haben ihre Positionen in der Wirtschaft eingenommen." Formularentwurf und Stempel dieser Collage sind original, der fiktive Text, der mancherorts bereits von der Realität überholt wurde, stammt von dem Pfarrer Schlademann, der in der Stasi-Auflösung für Sachsen-Anhalt und Halle tätig war. Schon die Titelblätter der Almanache pointieren die politische Ausrichtung: Im Common Sense 1989 grüßt uns der hämisch grinsende Wendemann, 1990 findet sich nach dem Umblättern des vorderen Vorsatzpapieres aus mit Südfrüchten dekoriertem Original-DDR-Verpackungspapier wiederum der Geile deutsche Adler, der - wie im Nachhinein klar wurde - Metapher für die Vorgehensweise bei der "Abwicklung" eines Staates wurde. Ein Jahr später karikiert das Maskottchen Lutz, ein Teddybär mit Hammer und Sichel auf der Kappe und dem DDR-Anstecker "Zivilverteidigung", abgebildet auf einer ausgerissenen Seite, die Reste dessen, was von der alten Zeit noch übriggeblieben ist. Einige weitere Beispiele seien hier nur aufgelistet: Die Typografik unterm strich von Kito Lorenc (1989) als Kommentar zum neuen Wahlverhalten, das mit schwarz-rot-goldenen Lackfarben überarbeitete CDU/CDJ-Wahlplakat von Prautzsch (1990), das Blatt die letzte aller weiten von Marc Berger (1991), das das Ende des Kommunismus und das traditionelle Toleranzdefizit moderner Demokratien anprangert, und schließlich (1992) die Kopie eines Schreibens des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, in dem Jörg Kowalski mitgeteilt wird, daß über ihn eine Akte in der Außenstelle Halle vorliegt - von Kowalski rot abgestempelt mit "Heimatkunde". Im Almanach des darauffolgenden Jahres wird dieses Rätsel weiter enttarnt: Ein Schreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Abteilung XX, vom 17. Juli 1989, welches sich mit dem "0V (= operativer Vorgang) 'Literat' unserer DE (= Diensteinheit) - Kowalski, Jörg" beschäftigt, wirft dem Common Sense eindeutige Staatsgefährdung vor: "Inoffizielle Ersthinweise verdeutlichen einen politisch fragwürdigen Inhalt dieses Materials."

Die politische Satire ist von der künstlerischen Subversivität nicht zu trennen. Im Vorwort zum Almanach 1989 spricht Kowalski programmatisch vom Büchermachen als "Möglichkeit, die Schranken zu überwinden, die unsere Kreativität paralysieren" und von der "Lust am Experiment". So werden die Common Sense-Almanache zum Spielfeld künstlerischer Techniken, die das Medium Buch entgrenzen und in die Welt der bildenden Kunst einbinden. Neben den traditionellen Holzschnitten, Lithografien, Radierungen und Siebdrucken (letztere zu DDR-Zeiten beliebtes Mittel, die allgegenwärtige Zensur im literarischen Bereich dadurch zu umgehen, daß man den Text serigrafierte und in Verbindung mit dem Bild zum Kunstwerk erhob) finden sich zahlreiche experimentelle künstlerische Techniken. So zum Beispiel Materialarbeiten: Filz/Farbfäden/ Sandpapier (Poem in Tact der Brasilianerin Lenir de Miranda, 1989), Filzkunst der Kreuzberger Werkstatt Art, Fetzen einer DDR-Fahne (Ein Gespenst ging, um ...), Toilettenpapier (aus guten alten Zeiten: ade, ade), alle 1990, Foliendruck in Verbindung mit Textilkunst der Hallenserin Dagmar Varady, eine Papierarbeit der tschechischen Kunststudentin lvanova Rothbauerova, beide 1991, eine Papiercollage der Russin Rea Nikonova, bedruckte und übermalte Seiten aus Versandhauskatalogen, alle 1992. Diese Arbeiten sind Teil eines weitgefächerten künstlerischen Spektrums, das (übermalte) Fotografien, Prägedrucke, Mail Art, Found Poetry und visuelle Poesie umgreift. Es ist genau dieses Durchbrechen konventioneller Gestaltungsprinzipien durch die Kombination des eigentlich nicht Kombinierbaren, das jeden Almanach in den Bereich des Objekthaften transportiert.

Mail Art, Found Poetry und visuelle Poesie sind Bindeglieder zwischen Kunst und Literatur, die durch Reduktion des Sprachlichen neue Bildlichkeiten kreieren. Diese literarische Subversivität ist seit dem ersten Almanach wesentliches Prinzip der Bände. So erstaunt es nicht, daß neben den traditionellen literarischen Gattungen, die sehr oft satirisch überhöht werden, das Experiment mit der Sprache eine zentrale Rolle spielt. Wie das funktionieren kann, zeigt Kowalski 1989 mit seinem Beitrag Genesis eines Gedichtes, in dem er ein über sechzigzeiliges Gedicht in drei Arbeitsschritten auf zwölf Zeilen reduziert. Uwe Warnke, der noch zu DDR-Zeiten die unangepaßte Zeitschrift Entwerter - Oder schuf, verfremdet einen Lexikoneintrag zum Thema "kommunistische Persönlichkeiten" durch Überdrucken eines anderen Textes (Text, 1990). Der Sachtext Psychologische Vorbereitung auf das Gefecht. Ausgewählte Erkenntnisse und Erfahrungen über die psychologische Stählung in der Nationalen Volksarmee und in den Grenztruppen der DDR aus dem Jahre 1980 ist dem Almanach 1991 eingebunden, und nur das Gedicht Kowalskis HEXENBANN / nach einem altjüdischen zauberspruch, das diesem Artikel vorgeschaltet ist, und dessen Einbettung in den Gesamtzusammenhang des Buches machen die immanente Satire evident. Im Common Sense 1992 veröffentlicht Tarlatt seine Kurzgeschichte Die Versuchung des Grigori - eine sich logisch entwickelnde Arbeit, bei der man erst zum Schluß merkt, daß der gesamte Text eine literarische Collage aus Werken von Wilde, Meyrink, Eco, Bachmann, Remarque, Aragon und anderen Autoren ist. Florian Felix Weyh drückt schließlich im Common Sense 1993 seine Sprachwirklichkeit im Beitrag 6 PHARMAZEUTISCHE SENSATIONEN so aus: "Fiesputschmittel / Fußpitschmuttel / Putschmiesfüttel / Pitschfüßmuffel / Mutschfüttpiesel / Miesmuttpuschel." Es sei an dieser Stelle noch Guillermo Deisler erwähnt, der nach seinem Geburtsland Chile auch seine Wahlheimat DDR verlor und nun in den Texten und Bildern seines UNI / vers in den Welten leben kann, die er selbst verantwortet, und dessen Inspiration vielen Künstlern innere Grenzen öffnete. Neben Sprachexperimenten finden sich aber auch genügend lineare Texte, deren Klarheit eigenartig anrührt. Die maßlose Gesellschaft nennt Winfried Völlger seinen Beitrag für den Almanach 89, den er schon am 12.5.89 - also ein halbes Jahr vor der Publikation und auch vor dem "Deutschen November" - anläßlich der 27. Tage der Kinder- und Jugendliteratur in Leipzig vortrug. Auf geradezu prophetische Weise postuliert er die Notwendigkeit tiefgreifender ökonomischer und politischer Reformen: "Über diesem Land schwebt ein stummer Schrei - wer nicht völlig taub ist, wird das spüren. Und wenn diese Gesellschaft noch zu retten ist, dann schreit sie nach Veränderung." Zwei Jahre später werden die westdeutschen Marktmechanismen, die zu diesem Zeitpunkt Ostdeutschland schon fest im Griff haben, bissig von Florian Felix Weyh in seiner Arbeit Das Jahr 1991 aus Sicht des fahrenden Dienstleistungsgewerbes: Der Banalitätenberater (Ost) - Der Mösenplaner (West) karikiert. Abschließend sei noch auf die literarische Entdeckung des Jahres 1991 verwiesen: Georges-Arthur Goldschmidt, der für sein Buch Die Absonderung über die psychischen und physischen Qualen eines jüdischen Kindes im französischen Exil den "Geschwister-Scholl-Preis" erhielt, ist im Common Sense 1992 mit einem Auszug aus dem korrigierten Typoskript jenes Buches vertreten.

Noch einige Worte zu den beteiligten Autoren und Künstlern: Überwogen im ersten Almanach noch die Mitarbeiter aus Halle und Leipzig, waren westdeutsche und ausländische Arbeiten kaum vertreten, so ändert sich dieses Verhältnis in den darauffolgenden Jahren rapide: zwei ausländische Beiträge 1989, zwölf im Jahre 1992 bei einer Gesamtteilnehmerzahl zwischen 30 und 40. Im Gleichzug steigt auch die Zahl der westdeutschen Beteiligten. Ein literarischer und künstlerischer Internationalismus also, der sich zwischen Europa und der Dritten Welt eingependelt hat. So finden sich in diesen fünf Almanachen etwa 160 künstlerische und literarische Beiträge von mehr als 110 Beteiligten, deren soziale Positionen genauso unterschiedlich sind wie ihre Herkunftsländer: Da stehen noch relativ unbekannte Autoren neben hochgerühmten Preisträgern, Vagabunden neben Hochschulprofessoren, Exilanten neben Einheimischen, Nervenkranke neben nüchtern sezierenden Schreibern.


Es wird diesen Almanachen immer wieder der Vorwurf gemacht, sie seien ein wüstes Sammelsurium von Beiträgen nicht zu vereinbarender Künstler- und Schriftstellerpersönlichkeiten ohne jedwede thematische Vorgaben durch die Herausgeber - ein Kunstwerk, dem die Geschlossenheit fehle. Aber genau dies ist meines Erachtens die unendliche Stärke des Common Sense: Daß er ein experimentelles Spielfeld darstellt, auf dem die unterschiedlichsten literarischen und künstlerischen Formen ausgetestet werden können, die dann möglicherweise in unabhängigen Künstlerbuchprojekten weitergeführt werden. Aufgrund dieses Tatbestands besteht die starke Hoffnung, daß die subversive Archaik von Tarlatt und Kowalski noch viele Jahre dem mancherorts recht schlaffen Kunstbetrieb eine neue Sinnlichkeit zuführt in einer Zeit, in der sich die Kunst immer mehr vom Menschen entfernt.

Reinhard Grüner