Wahrhaftige Buchwesen
Gedanken eines Sammlers zu zehn Jahren Edition
Augenweide
In den Wirren der Wiedervereinigung,
als die Deutschen weiter voneinander entfernt waren als jemals zuvor,
erschien in der "Süddeutschen Zeitung" vom 16. März
1990 unter der Überschrift "Spaß und politische
Ambition" ein Artikel über die erste Alternative Buchmesse
Leipzig, in dem auch die Edition Augenweide Erwähnung fand.
Dies war für mich der erste Kontakt mit den anarchischen Büchern
und Bildern der DDR-Subkultur, die Kinder ihrer Zeit waren, aber
gleichzeitig auch von deren bevorstehendem Ende kündeten.
Die Edition Augenweide gehört
mit ihren unverwechselbaren Künstlerbüchern zu den wenigen
Editionen, die diese Umbruchszeit überlebt haben. Die körperliche
Gestalt des dinglichen Homunkulus, dem Ulrich Tarlatt und Jörg
Kowalski, die Macher dieser Edition, Leben einhauchen, mag bestehen
aus mit Messingecken beschlagener Pappe oder bretonischen Schieferplatten;
geschmückt sein mit der Applikation eines Steins aus stone-washed
Jeans oder einem Scherbchen aus Knossos; zusammengehalten werden
mit einfachen Leisten oder einem handgeschnitzten und bemalten Totem.
Seine Organe sind Pack- und Japanpapier, Filz- und Messingobjekte,
Collagen, Papierfaltungen, Genähtes. Die Seele dieses Buchwesens
- so würde ich im folgenden gerne von den Arbeiten der Edition
Augenweide sprechen - sind aber die Texte und die Bilder. Selten
werden Texte aus dem klassischen Literaturkanon ausgesucht, dafür
aber Erstveröffentlichtes und Verborgenes, Witziges und Trauriges,
Erotisches und Unschuldiges. Selten finden sich Bilder von den etablierten
Größen, dafür aber viel Radiertes, Serigraphiertes,
Geschnittenes, Geprägtes und Gestempeltes von Autodidakten,
Akademieabsolventen und vor allem der jungen Künstlergeneration
der sich im Moment entwickelnden Kunstszene. Freilich - inzwischen
weiß man, daß das kulturelle Vakuum, welches das Schweigen
der DDR-"Staatskünstler" hinterließ, sehr schnell
von dieser jungen Künstlergeneration gefüllt wurde, die
aufgrund ihrer unbestreitbaren Brillanz inzwischen eben nicht mehr
eine unbekannte Größe, sondern eine Konstante in der
Bewegung des Kunstmarkts zwischen Leipzig, Berlin, Köln, Basel,
Paris und New York geworden ist. Kann also die Buchmenschenwelt
dieser so real irrealen Edition für den Sammler Grund genug
sein, sich in sieben Jahren 22 hochpreisige Künstlerbücher
zu kaufen; zusätzlich dazu zu sammeln alle kolorierten Varianten,
verworfenen Entwürfe, Offsetillustrationen Tarlatts zu Büchern
namhafter Verlage, Textanthologien, bei Vernissagefeiern bekritzelte
Servietten und sogar gestempelte und überzeichnete Briefumschläge?
Nein!
Die eigentliche Ursache, warum ich
die Edition Augenweide so überaus schätze, liegt sehr
viel tiefer. Es ist dies ihre eindeutige und unwiderrufliche Wahrhaftigkeit.
Eine Wahrhaftigkeit, die eigentlich jeder guten Kunst immanent sein
sollte, aber gerade bei Künstlerbüchern und Pressendrucken
- einem marginalen Bereich des Kunstschaffens, der aber immer mehr
an Bedeutung gewinnt - noch viel zu sehr von den handwerklichen
Kriterien traditioneller Bibliophilie überlagert und erdrückt
wird. Folgende Beispiele seien mir gestattet: Der Künstler,
Schriftsteller und Mail-Artist Guillermo Deisler, 1940 in Chile
geboren, durch den Putsch aus seiner Heimat vertrieben und nach
einem Zwischenstopp in Frankreich in der DDR exiliert, war ein guter
Freund Ulrich Tarlatts. Sehr schnell wird er zur Kultfigur, da er
in seinen hallensischen Künstlerkreisen nicht nur davon spricht,
was irgendjemand irgendwann irgendwo vielleicht einmal machen könnte,
sondern der das ganz einfach macht. Der aus der tiefen DDR heraus
ein ein globales Netz der postalischen Kommunikation entwickelt,
der sich nicht von drohender Bespitzelung und möglichen Maßnahmen
des Staatsapparates davon abhalten läßt. Dieser Guillermo
Deisler erkrankt vor einigen Jahren schwer, und so müssen viele
Freunde sein langsames Dahinsterben und kontrapunktisch dazu sein
An-Malen und An-Dichten gegen den Tod miterleben und miterfühlen.
1994, genau zu dieser Zeit, gibt Ulrich Tarlatt den 18. Druck der
Edition Augenweide heraus: Gebetbuch I (Beschwörung).
Die zwölfmal wiederholte Beschwörungsformel "nein
/ sie klirren / nicht", die sich auf Hölderlins Gedicht
"Mitte des Lebens" bezieht, wird zur Waffe des Künstlers
gegen die schmerzhafte Krankheit des Freundes. Im Jahr 1995 kontaktieren
Tarlatt und Kowalski alle Kollegen und Freunde Guillermos, die mit
ihm jemals zusammengearbeitet haben, und bitten sie, für Guillermo
einen Text- oder Bildbeitrag in der Auflagenhöhe 60 zu fertigen.
Alle Beiträge werden gebunden und erscheinen noch im gleichen
Jahr unter dem Titel para Guillermo als 21. Druck der Edition.
Guillermo erhält diese Hommage zufälligerweise genau an
seinem Geburtstag überreicht. Einige Monate später, am
21.10.1995, stirbt er.
Diese beiden Hommagen stellen einen
eigenen Typus im Schaffen der Edition dar. Es soll nun im folgenden
eine grobe Typologisierung aller Drucke versucht werden, aber ich
muß auch darauf hinweisen, daß sich diese Typen in vielen
Büchern nur schwer differenzieren lassen, sondern vielmehr
entzückende Bastarde zeugen:
Vier Bücher der Edition Augenweide
(Rauhnachtträume, Corse, Der Bücherwächter, Konikleta)
beschäftigen sich mit der Mythologie im weitesten Sinne. In
den Rauhnächten, den zwölf Nächten zwischen Weihnachten
und den Heiligen Drei Königen, bricht - so der volkstümliche
Glaube - die existierende Ordnung der Welt zusammen und macht dem
Chaos Platz. Die Träume in diesen zwölf Nächten sollen
prophetischen Charakter haben und Zukünftiges offenbaren. Mit
der Metapher des Traums kritisieren die Autoren aber die Wirklichkeit
ihres DDR-Alltags. Jörg Kowalski sagt dazu in seinem Vorwort:
"So sind die vorliegenden Traumprotokolle und Grafiken nicht
nur Spiegel des nächtlichen Innenlebens der Autoren, sondern
sie zeugen auch von unserer täglichen Selbstkontrolle."
Wie sehr der Staat das "Innenleben" seiner Autoren fürchtete,
zeigt die Tatsache, daß das Procedere für die Genehmigung
des Druckverfahrens für dieses Buch mehrere Monate dauerte
und zum Erscheinen noch nicht abgeschlossen war. Corse
und Konikleta sind Ergebnisse der ersten großen Reisen
nach Korsika und in die Bretagne, die Tarlatt und Kowalski nach
der Grenzöffnung machten. In beiden Werken untersuchen sie
die archaischen Strukturen vorgeschichtlicher Kulturen. Der
Bücherwächter, das bislang kleinste Buch der Edition,
offenbart die Endzeitvision einer untergegangenen Kultur, deren
Linear-B-Schrift - die früheste indogermanische Sprache Europas
- von Ulrich Tarlatt in der Form von Holzschnitten auf moderne griechische
Bankakten gedruckt wird. In all diesen Büchern wird die Frage
gestellt, welche Rolle der Mythos in unserem ausgehenden 20. Jahrhundert
noch spielt oder spielen sollte.
Vier weitere Werke (Der neugepflanzte
Erkenntnisgarten des kabbalistischen Wissens, Des Kaisers Bart,
Cluster, abschied von sara) sind politisch inspiriert. Der
neugepflanzte Erkenntnisgarten verwendet das Genre des Zauberbuches,
um mit Zaubersprüchen und Buchstabenmagie das eigentlich gar
nicht Verborgene, nämlich die DDR-Wirklichkeit, zu bannen.
Der Marx-Satz "Ein sehr großer Teil des Hierhergehörigen
ist oben entwickelt worden" wird kabbalistisch bearbeitet,
Cornelia Schniggenfittigs scripturales magisches Amulett aus Messing,
Pergament und Roßhaar gegen den bösen Blick bietet dem
Adepten magischer Künste Schutz. Wie die Geschichte gezeigt
hat, könnte man mit einem Schmunzeln einfügen, war der
Bann erfolgreich. Das Buch Des Kaisers Bart erschien zum
Barbarossajahr 1990 und war als letztes deutsch-deutsches Künstlerbuch
konzipiert. Die beteiligten Künstler beschäftigen sich
mit der Problematik des durch die Wiedervereinigung neu entstandenen
deutschen Staates, den man damals neu definieren hätte müssen,
anstatt einem kranken System marktwirtschaftlich starke Strukturen
überzustülpen, die die Krankheit eher verstärkten,
als sie zu heilen. Cluster behandelt die Veränderung
der Sprachklischees in den beiden deutschen Staaten zwischen September
1989 und April 1990. Hier weist der veränderte Sprachgebrauch
auf die monumentalen Umwälzungen hin, die erst jetzt in ihrer
ganzen Tragweite ersichtlich werden. abschied von sara
ist ein Holzschnittbuch, das die textlichen Elemente reduziert,
um die Graphiken sprechen zu lassen. Es ist ein elegisches und stilles
Buch über die Trauer um Verlorenes; ein Buch, das zum Teil
auch politische Inhalte transportiert: Drei übereinander gestapelte
Hamburger und der ins Holz geschnittene Text "3 big mac hoffnung"
mit dem schreibmaschinengeschriebenen Zusatz auf dem schmalen Vorblatt:
"die größte grausamkeit des lebens ist satt sein."
Bei drei Künstlerbüchern
steht die Beschäftigung mit der Literatur im Vordergrund. Es
sind dies November in Antonin, Doppelkopf und Waggon.
In seinem Brief vom 28.9.1990 schreibt mir Jörg Kowalski: "Kürzlich
ist unser neustes Buch, November in Antonin, fertig geworden.
Gerade in diesen 'unruhigen Zeiten' schien uns ein solcher Band
mit Liebesgedichten angebracht." Die letzten beiden Strophen
des Gedichts, das dem Buch den Titel gibt, drücken die Ambivalenz
des Lebens zwischen Freiheit, Identitätsverlust und Utopie
deutlich aus:
"es gibt augenblicke
da wird klar
wie frei wir sind
höre ich mich sagen
mit einer stimme
die nicht meine ist
nicht die gewohnte.
am morgen
sind die bäume im park
weiß."
Der Band Doppelkopf
erschien 1992 in Zusammenarbeit mit der Edition Bleimond von Anette
und Michael Groschopp und enthält Lyrik von Thomas Böhme
und Annerose Kirchner. Die spielerischen Elemente des Buches (Doppelbuch
zum Wenden mit insgesamt zwei Leporelli, Betitelung in Anspielung
auf das Kartenspiel) tun der Ernsthaftigkeit des dichterischen Anspruchs
keinerlei Abbruch. Das Künstlerbuch Waggon, erst im
letzten Jahr erschienen, macht den Umgang mit der Literatur zum
Strukturprinzip des Buches. Vier deutsche und vier russische/ukrainische
KünstlerInnen beschäftigten sich mit der Literatur des
anderen Sprachraumes, die sie adäquat in Bilder umzusetzen
hatten. Ergebnis der zweijährigen Arbeit ist ein Buch mit 40
Texten bzw. Textfragmenten und 40 Originalgraphiken - das erste
deutsche, russische und ukrainische Grenzen überschreitende
Künstlerbuch dieser Größenordnung.
In den Büchern
Mein Zahn riesengroß - erotische Träume von Männern
und froid & chaud. petite guide geht es um die Macht
des Eros, aber nicht um die der unterdrückten Libido, die den
Menschen ob ihrer Unkontrollierbarkeit und Vehemenz peinigt, sondern
um die lustvolle Variante des Spaßes, den Menschen miteinander
haben können. Die Kassette zu Mein Zahn riesengroß
ist überzogen mit einem Streifen hautfarbenem Leder und sehr
sinnlicher roter und schwarzer Damenunterwäsche, die ein VEB
der DDR für die Pariser Demimonde produzierte. Lose beiliegend
findet sich ein Originalfarbsiebdruck mit fünf stramm marschierenden
nackten Männern mit erigierten Penissen und sechs Panzern,
deren Rohre einen eindeutig phallischen Charakter haben. Die französischen
Textfragmente des Werkes froid & chaud , eines "Reiseführers
in die Hose", stammen aus einem ganz normalen Sprachführer,
deren Kontrastierung mit den derben naiv-erotischen Originalradierungen
Tarlatts dieses Genre auf sehr humorvolle Weise karikiert.
Eine der wohl bekanntesten
Unternehmungen der Edition Augenweide ist der alljährlich zum
Jahresende erscheinende Künstlerbuchalmanach Common Sense.
In den bislang sieben publizierten Bänden tummeln sich wichtige
Vertreter der literarisch-künstlerischen Avantgarde der Gegenwart,
die von Tarlatt und Kowalski persönlich dazu eingeladen werden,
sich mit einem Text oder einer originalgraphischen Arbeit zu beteiligen.
Jeder der circa 30 bis 35 Mitwirkenden erhält ein Exemplar
des Buches; die wenigen verbleibenden Bände finden sehr schnell
ihren Platz in privaten und öffentlichen Sammlungen. Die imposante
Vielfalt der Almanache macht diese Reihe zu dem Kompendium junger
Literatur und Kunst in Deutschland.
Es ist genau diese Mischung
aus Spiel und Ernst, aus Lust und humorvollem Augenzwinkern oder
beißendem Sarkasmus, die alle Bücher dieser Edition auszeichnet
und sie zu dem macht, was der Editionsname verspricht, nämlich
zu einer wahren Augenweide. Lassen wir Ulrich Tarlatt das (vor)letzte
Wort. In einem Brief vom März 1996 schreibt er mir über
seine Arbeit an den Büchern: "wir machen neben allen anderen
aktivitäten unsere bücher. diese sind zuallererst einmal
kunstwerke und erst sekundär handelsobjekte." Ich denke,
daß man es kaum treffender sagen könnte.
Reinhard Grüner |