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BARBAROSSA, BISMARCK UND BORGES oder DIE TOPOGRAPHIE MYTHOLOGISCHER ORTE

Gedanken zur EDITION AUGENWEIDE

Zu festlichen Veranstaltungen und kultischen Handlungen erschienen die Damen meist in langen weiten Röcken, die in der Taille eng geschnürt waren. Ihre kostbaren Kleider bedeckten alles - bis auf die Brüste. Eine aus ihren Reihen, die Königstochter Aridela ("die herrlich Strahlende") half ihrem Geliebten, den Weg zurück zu ihr aus den labyrinthischen Gängen des Palastes zu finden, nachdem er das zwiegestaltige Ungeheuer getötet hatte, dem die Athener alljährlich sieben Knaben und sieben Mädchen als Buße opfern mußten. Der kretische König Minos, seine Tochter Ariadne, Theseus, der tapfere Sohn des Königs von Athen und das Ungeheuer Minotauros, halb Stier und halb Mensch, sind die Akteure dieses frühen europäischen Dramas. Sein Schauplatz ist Kreta, das "Land in weindunkler See", wie Homer es nennt. Hier entsteht, lange vor unserer Zeitrechnung, die älteste Hochkultur Europas, hier finden sich die Wurzeln Europas. Als die vorderasiatische Königstochter Europa von dem in einen zahmen Stier verwandelten Zeus über das Meer nach Kreta entführt wird, dort mit dem höchsten Gott der Griechen drei Söhne zeugt, darunter auch Minos, kann der Kontinent Europa endlich auf eine eigene Identität verweisen. Schrift muß diese Identität eines Volkes und eines Landes fixieren, und so entsteht um etwa 1400 v. Chr. in Griechenland auf lanzettförmig ovalen Tontäfelchen die minoische Linear B, der früheste Versuch in Europa, eine indogermanische Sprache zu schreiben, die noch dazu circa 3000 Jahre lang ihr Geheimnis bewahrt und erst 1952 entschlüsselt werden kann.

Das bislang letzte Buch der Edition Augenweide Der Bücherwächter (1993) mit dem gleichnamigen Gedicht des Argentiniers Jorge Luis Borges und Illustrationen von Ulrich Tarlatt setzt sich primär mit diesen Ursprüngen unserer europäischen Kultur auseinander. Die auf bunt aquarellierten Untergrund gedruckten Holzschnitte sind Abbildungen der oben erwähnten Linear B, also Lautzeichen, Ideogramme, Zahl-, Maß- und Gewichtszeichen. Als Druckträger für diese Illustrationen verwendet der Künstler originale griechische Bankakten; die Ursprache Europas wird damit mehr als 3000 Jahre später hineingeboren in die moderne Welt des globalen Banking. Das funktionale im Hintergrund aufscheinende Neugriechisch der Gegenwart kontrastiert also mit den archaischen Chiffren einer längst toten Kultur. Borges offenbart uns in seinem Gedicht "Der Bücherwächter" die Endzeitvision einer untergegangenen Kultur: Hsiang, der "Verwahrer der Bücher", hat das Erbe seines Vaters übernommen und sichert die geschriebenen Güter - die Bücher der Weisheit, des Mythos und der Harmonie der Welt - in seinem Turm vor den wilden nomadisierenden Horden des Nordens. In der modernen Gesellschaft, die Kultur zuweilen nur noch als Zugabe zu viel mehr Wachstum und viel mehr Überfluß definiert, ist es müßig, die Frage zu stellen, wen Borges wohl mit seinen brandschatzenden Horden gemeint haben könnte. Durch die Verbindung der mythischen Ursprünge Europas mit der nüchternen Faktizität der Gegenwart gelingt dem Bernburger Künstler Ulrich Tarlatt die Synthese von Anfang und Ende. Der Einband des kleinen Bändchens (15 x 7,5 cm) spiegelt dies wider: Material für den Deckel ist beschrifteter hellbrauner griechischer Pappkarton, an dem sich teilweise noch die Klebstreifen der Verpackung befinden; auf die beiden Deckel sind jeweils drei Holzschnitte mit den Linear-B-Schriftzeichen collagiert, und am Buchrücken hängt an einer Schnur eine kleine Scherbe aus Knossos.

Die erste längere Reise nach der Öffnung der Grenzen führt Ulrich Tarlatt in das französische Korsika. Als Ergebnis dieses Aufenthalts entsteht 1991 nach seiner Rückkehr das Künstlerbuch Corse - ein monumentales Werk mit sieben Gouachen, zehn Radierungen und 23 Holzschnitten in einer Auflage von nur 30 Exemplaren. Die Texte, 14 poetische Resümees, sind zwischen die künstlerischen Arbeiten geschaltet und thematisieren die Urgewalt korsischer Natur mit ihren steilen Küsten, ausgedehnten Wäldern und dichter Macchie. Die Ohnmacht des Menschen, seine Einsamkeit und Traurigkeit erklären sich auch aus der Übermächtigkeit der Inselnatur. Die Illustrationen wollen dieses Verhältnis ausloten: Der Betrachter findet Ursymbole (z.B. Dreieck, Viereck, Kreis), surreale Fabelwesen und verschlüsselte Botschaften, die aus den Tiefen der Psyche aufzutauchen scheinen, und fühlt das Anliegen, Zeitlosigkeit in künstlerische Form gerinnen zu lassen. Die verwendeten Materialien untermauern diese Aussage: Papiere unterschiedlicher Beschaffenheit, ein Einband aus Graupappe mit Metallbeschlägen und einem collagierten Objekt auf dem Vorderdeckel, ein handgeschnitztes Totem, das als Buchrücken dient, vermitteln haptisch das Gefühl, ein Werk in den Händen zu halten, das die Grenzen des Buches überschreitet und zeitlich nur mehr schwer lokalisierbar ist.

1990, als sich die Mehrzahl der Deutschen noch im Taumel der Wiedervereinigung befindet, konzipieren junge Schriftsteller und Künstler für die Edition Augenweide das Künstlerbuch zum Barabarossajahr: Des Kaisers Bart. Die Sage vom unterirdischen Herrscher, dem "Alten im Berge", in dem sich die historischen Persönlichkeiten Friedrichs I. Barbarossa (gestorben 1190) und Friedrichs II. (gestorben 1250) vermengen, ist als Kyffhäusersage bekannt: "Von diesem Kaiser gehen viele Sagen im Schwange. Er soll noch nicht tot sein, sondern bis zum jüngsten Tage leben, auch kein rechter Kaiser nach ihm mehr aufgekommen. ... Gewöhnlich sitzt er auf der Bank an dem runden steinernen Tisch, hält den Kopf in der Hand und schläft ... Der Bart ist ihm groß gewachsen, nach einigen durch den steinernen Tisch, nach anderen um den Tisch herum, dergestalt daß er dreimal um die Rundung reichen muß, bis zu seinem Aufwachen, jetzt aber geht er erst zweimal darum." (Brüder Grimm, Deutsche Sagen, Berlin 1816) Als es im 19. Jahrhundert darum geht, den ersten deutschen Nationalstaat zu schaffen, bedient man sich wiederholt des historischen Rückgriffs auf Barbarossa: Rückerts Staufergedicht findet Eingang in die Schullesebücher, Kaiser Wilhelm I. wird 1871 von Felix Dahn als "Barbablanca" glorifiziert. Auch dem Blut-und-Boden-Mythos der Nationalsozialisten kommt der sagenhafte deutsche Kaiser überaus gelegen: Nach ihm wird der verhängnisvolle Rußlandfeldzug ("Unternehmen Barbarossa") benannt; nur etwa acht Monate nach der Katastrophe von Stalingrad verkündete man zur Fahnenweihe auf dem Hohenstaufen noch stolz: "Wir stehen heute auf einem Berg im deutschen Land, der ein heldisches Symbol deutscher Größe und deutschen Heldentums, aber auch ein Symbol der deutschen Zukunft ist. ... Jetzt ist wiederum ein Augenblick in der deutschen Geschichte, da wir auf diesem Boden das Recht und die Ehre des Reiches verteidigen." (Schwäbische Rundschau vom 30.9.1943) Als die Schriftsteller Wilhelm Bartsch, Thomas Böhme, Peter Huckauf, Jörg Kowalski, Hans-Ulrich Prautzsch, Florian Felix Weyh und die Künstler Frieder Heinze, Klaus Süß und Ulrich Tarlatt nun daran gehen, die Problematik des durch die Wiedervereinigung neu entstandenen deutschen Staates literarisch und künstlerisch zu verarbeiten, spielen auch sie mit den Variationen der Barbarossa-Sage. In Florian Felix Weyhs bitterböser Satire "Portrait des Vereinigungskanzlers als sitzender Kaiser" heißt es dazu: "Dreimal hat er die deutschen Stämme fast geeint. / Als preußischer Junker aber verirrte er sich in / einen Spiegelsaal. / Als österreichischer Gefreiter aber las er / Landkarten übermütig grenzenlos. / Als rheinischer Advokat aber berauschte er an / brauner Limonade sich." Völlig unterschiedliche historische Persönlichkeiten wie Bismarck, Hitler und Kohl werden unter den gemeinsamen Nenner "deutsche Einheit" subsumiert, was auch nur im Rahmen einer Satire möglich sein darf. Eine von Tarlatts Zinkografien führt dieses Spiel noch weiter. Da tauchen auf dem Blatt mit dem Schriftzug "auch nur ein schicklgruber" folgende Personen auf: Beethoven, Goethe, Nietzsche, Goebbels, August der Starke, Barbarossa, Hitler. Dazwischen eingestreut ein deutscher Schäferhund, ein "deutscher gruß", eine Narrenkappe und das altbekannte "wie es singt und lacht". Unvereinbares zu verbinden, fiktive Zusammenhänge zu konstruieren, aufzuzeigen, wo unsere Kultur eigentlich inzwischen gelandet ist, dies gelingt Tarlatt hier meisterhaft. Das von Hans-Ulrich Prautzsch im Vorwort angesprochene Ziel, "... im Überschwang der Ereignisse etwas Besinnlichkeit, Nachdenklichkeit aufkommen (zu) lassen", wird mit dieser Anthologie sicherlich erreicht. Noch viel wichtiger ist meines Erachtens, daß die unterschiedlichen Beiträge dieses Buches eines gemeinsam haben, nämlich daß sie den Barbarossa-Mythos gründlichst demystifizieren und zeigen, daß das 20. Jahrhundert nach anderen Leitbildern verlangt.

Drei Bücher mit unterschiedlichen Inhalten, unterschiedlichen Illustrationen, in unterschiedlicher Machart, die sich aber mit dem gleichen Thema auseinandersetzen: Welche Rolle spielt der Mythos in unserer Zeit? Zum einen eine sehr verhängnisvolle, wie die jüngere deutsche Geschichte, wie auch beispielsweise Alfred Rosenbergs "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" (1930) bewiesen haben. Zum anderen aber ermöglicht er es uns, zu den Wurzeln unserer Zivilisation vorzustoßen, kann er uns vielleicht in der Paradoxie unserer krisengeschüttelten Welt neue Wege weisen. Wen erstaunt es da, daß sich das gerade in Arbeit befindliche Künstlerbuch der Edition Augenweide auch mit den archaischen Strukturen der bretonischen Landschaft auseinandersetzen wird? Obwohl das thematische Spektrum der Edition sehr vielfältig ist und dieser Aufsatz deshalb nur einen Teilaspekt behandelt, läßt sich nach etwas über sechsjähriger Editionsarbeit vermuten, daß Ulrich Tarlatt, Jörg Kowalski und die anderen beteiligten Künstler dabei sind, eine Topographie mythologischer Orte zu entwickeln, die dem Interessierten noch viele interessante Entdeckungen verspricht.

Reinhard Grüner