Barbarossas Strapse oder Fünf Jahre Edition
Augenweide
Unbedenklichkeitsbescheinigung
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Bei
den von Herrn Ulrich T a r l a t t,
Maler/Grafiker, 4350 Bernburg, Dürerring 12,
zum Versand vorliegenden Boxen mit künstle-
rischen Arbeiten zum Thema "Traum" und ein
Portfolio visueller Poesie - zur Ausfuhr
als Geschenke vorgesehen - handelt es sich
um kein Kulturgut. |
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(Schreiben
des Rates des Kreises Bernburg, Abt. Kultur,
vom 21. 9. 88, in: WortBILD 1, 1988) |
Aus einem VEB der alten DDR, der
Reizwäsche für die Pariser Demimonde produzierte, stammen
die Bezugsstoffe für die Kassette zum ersten Buch der Edition
Augenweide Mein Zahn riesengroß - erotische Männer-träume:
schwarze und rote Spitze über hautfarbenem Leder, als Verschluß
ein schwarzer Straps. Corse, das bislang letzte Werk
der Presse, ziert anstelle des konventionellen Buchrückens
ein handgeschnitztes Totem. Seit 1987 geht das Team Jörg Kowalski
- Ulrich Tarlatt immer wieder neue Wege in der Kreation seiner Künstlerbücher,
sprengt es die traditionelle Auffassung vom Buch.
Bemerkenswert daran ist zunächst
der zeitgeschichtliche Hintergrund, vor dem diese Werke bis 1989
entstanden: Während die Abteilung für Kunst, Musik und
belletristische Literatur in der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel
des Kultusministeriums der DDR und die Kulturabteilung im ZK die
ihr vorgelegten Manuskripte zensierten, Durckgenehmigungen erforderlich
waren, freier künstlerischer Ausdruck als nicht systemkonform
betrachtet wurde, blühten vor allem in den 80er Jahren Künstlerbücher
mit ungeahnter Intensität. In den Nischen des staatlich reglementierten
Kunstbetriebs konnten sich junge Künstler
einrichten, die das System mit seinen eigenen Waffen schlugen: Der
Siebdruck wurde zur vorherrschenden graphischen Technik der jungen
DDR-Kunst, denn der auf die Ebene der Kunst gehobene serigraphierte
Text gestattete das Umgehen der offiziellen Druckgenehmigung. Die
Bücher der Edition Augenweide sind genau dieser künstlerischen
Tradition verpflichtet. Als man aber 1989 bei dem Band Rauhnachtträume
von diesem Prinzip abweicht, setzen sich die Mühlen der Staatsbürokratie
schnell in Bewegung: sechs Gutachten werden eingeholt, und dieser
schmerzhafte Prozeß bringt einen umfangreichen
Schriftwechsel hervor. Die Affäre kommt erst nach Fertigstellung
des Buches zu ihrem Abschluß.
Was unterscheidet nun die Texte dieser
Edition von systemkonformer "Staatsliteratur"? Zunächst
einmal insistiert man auf der uneingeschränkten Freiheit des
künstlerischen Gedankens, obwohl man diesen Anspruch scheinbar
behutsam einfordert: Das Begriffsfeld "Traum" taucht in
den unterschiedlichsten Varianten auf: In Mein Zahn riesengroß
- erotische Männerträume (1987), in den Rauhnachtträumen
(1989), bis hin zum vorletzten Buch der Presse, Des Kaisers
Bart (1990), das - erschienen zum achthundertsten Todestag
- den sagenumwobenen Hohenstaufer Friedrich l. Barbarossa, der noch
immer im Kyffhäuser schlafen soll, thematisiert.
Die Künstler träumen sich
also in ihre Lust, in ihre Freiheit, in die Gegenwart und Zukunft
des wiedervereinigten Deutschlands. Sogar der Aufarbeitung jüngerer
deutscher Geschichte, nämlich der Erinnerung an die "Reichskristallnacht"
von 1938, nähern sie sich in dem Buch Der neugepflanzte
Erkenntnisgarten des kabbalistischen Wissens Amulett
von Cornelia Schniggenfittig, ein magisches Buchstaben- und Zahlenquadrat
und ein Kryptogramm verweisen wieder auf das surreale Element dieser
Edition. Nicht erstaunlich dann, daß eines der ersten Bücher
nach der Wende, November in Antonin (1990), die Liebe
zum Thema hat. "... in dieser wechselvollen Zeit vielleicht das einzig Mögliche"
meint dazu Jörg Kowalski.
Man sollte sich aber davor hüten,
den Machern dieser Edition deswegen apolitische Arbeit vorzuwerfen.
Ganz im Gegenteil - hinter den Träumen brodelt die Subversivität.
Im Vorwort zu dem Prospekt der Presse sagt Jörg Kowalski April
1990 dazu:
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Es
waren weniger vordergründig politische Ambitionen, die
uns bewogen, das erste Buch zu produzieren, sondern vor allem
die Sehnsucht nach jener Atmosphäre der Offenheit und des
Vertrauens, die nötig ist, damit Kunst entstehen kann.
Doch die Reaktion der "zuständigen Stellen"
machten uns schnell deutlich, daß "ungeplante, spontane
Kreativität" im real existierenden Sozialismus an
sich schon ein Politikum ist. |
In Der neugepflanzte Erkenntnisgarten
des kabbalistischen Wissens wurden Texte von Marx und Lenin
"kabbalistisch bearbeitet" (Jörg Kowalski), d. h.
verfälscht; Tarlatts Serigraphien wurden über
Zeitungspapier gelegt, so daß die DDR-Politik 1988 als Hintergrundinformation
aufscheint. Ein Jahr später versinnbildlichen besonders Volmers
Arbeiten in &Rauhnachtträume die Lage systemkritischer
junger Künstler: eingesperrt, mit der Realität ringend,
verängstigt. 1990 nimmt schließlich das "letzte
deutsch-deutsche" Buch &Des Kaisers Bart& die Wiedervereinigung
zum Thema, wiederum mit dezidierten Schlägen gegen die Wiedervereinigungseuphorie
bestimmter politischer Gruppen. Zu guter Letzt verweisen die Almanache
Common Sense (1989, 1990) schon auf dem Titelblatt auf
die politische Ausrichtung: 1989 der deutsche Michel als hämisch
grinsender "Wendemann" mit Fähnchen und Axt, 1990
der Bundesadler, sichtlich erregt - im doppelten Sinn des Wortes
- von der Einlösung seines Traums nach Wiedervereinigung.
Obwohl die Edition Augenweide Politisches
aufgreift, steht sie nur teilweise in der Tradition der Samisdat-Literatur.
Nicht primär Politik, sondern Einlösung des Anspruchs
auf Freiheit ist ihr eigentliches Anliegen. Obwohl sich die Künstler
als verankert in ihrer historischen Situation begreifen, gewinnen
ihre Worte und Bilder eine Aussage jenseits dieser Individualität.
Besonders in Tarlatts bislang jüngstem
Buch Corse (1991) wird dieses Anliegen zum Programm.
Die erste längere Reise nach dem Fall der Grenzen führt
nach Korsika und zur Konfrontation mit einer versunkenen archaischen
Kultur. Kurze poetische Aussagen Tarlatts, zwischen etwa vierzig
originalgraphische Arbeiten und Gouachen geschaltet,
strukturieren das Buch. Reduktion des Wortes, damit die Bilder um
so stärker sprechen können: Bilder surrealer Lebewesen,
Bilder mythischer Zeichen, Symbole für Leben und Vergänglichkeit,
magische Landschaften.
Wie eingangs erwähnt, sprengen
Kowalski und Tarlatt immer wieder die Form des Buches: In &Corse
das handgeschnitzte Totem als Buchrücken, die Materialcollage
auf dem Deckel, die metallenen Schließen auf dem robusten
Pappdeckel. In Common Sense 90 das eingebundene Filzkunstwerk,
in WortBILD 1 die abgeschrägte Stehkante des Bandes,
im Erkenntnisgarten das Amulett mit Roßhaar. Nicht
zu vergessen die unterschiedlichen Materialien und Kunstformen:
erotische Fotografien neben übermalten Fotos, Radierungen neben
Holzschnitten, diese wieder neben Gouachen, traditionelle Poesie
neben visueller Lyrik, als Druckträger Packpapier neben feinstem
Bütten, als Einbandmaterialien Spitze neben Pappe, als Vorsatzpapier
auch billiges graues Packpapier aus alten VEB-Beständen.
Das graue Packpapier, das im Zuge
der Verwestlichung schon kaum mehr zu erhalten ist, ruft eine leichte
Wehmut wach. Schon jetzt - knapp zwei Jahre nach den epochalen Ereignissen
jüngster deutscher Geschichte - geht neben Stasi, SED und Bespitzelung
auch ein Stück (ost)deutscher Kultur unter. Im Gegensatz zu
alten DDR-Zeiten ist in den neuen Bundesländern wenig Geld
da für Kunst, muß die Leipziger Buchmesse um ihr Überleben
kämpfen, werden ehemalige DDR-Künstler pauschal abgeurteilt,
erhält DDR-Kunst in manchen Museen Hausverbot, müssen
junge Künstler gegen Marktmechanismen ankämpfen, die zuweilen
ebenso fragwürdig und willkürlich sind wie seinerzeit
die Doktrinen der SED oder der NSDAP.
In dieser Situation
bietet die Edition Augenweide ein Forum für Künstler wie
Matthias Biskupek, Thomas Böhme, Guillermo Deisler, Hans-Ulrich
Prautzsch, Holger J. Schubert, Uwe Warnke und viele andere. Bleibt
zu hoffen, daß Jörg Kowalski weiterhin gegen den Strom
dichtet, daß Ulrich Tarlatt, der seinerzeit nach Verweigerung, Ausschluß
und zwei Einsprüchen Mitglied des Künstlerverbandes der DDR wurde,
auch im wiedervereinigten Deutschland gegen - wie er es selbst formuliert
- "lügen, grenzen, haß und harzer käse"
kämpft und für "individualität, toleranz und
strapse".
Reinhard Grüner
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