Moderne Buchkunst seit 1960 - Eine private Sicht -  
   

Gerhard Multerer - Deutschland

E-Mail vom 16.02.2004

 

Aufsatz für den Ausstellungskatalog Sammlung Reinhard Grüner 2004

 

1. Warum machst du Künstlerbücher?

Die Gründe dafür sind so vielfältig wie ein Menschenleben. Sie sind ein Konglomerat aus Erkenntnis, Motiv, Rationalität, Emotion, Suche, Zufall, Faszination, Verehrung, Notwendigkeit, Automatismus, Leidenschaft, Zeitgefühl, Romantik, Aufklärung, Ritual, Heilung, Dokumentation und vieles mehr, Begriffe, wie aus einer wahllos zusammengetragenen Bibliothek, mit Pflichtlektüre und individuellen Vorlieben, einander Widersprechendes und einander Ergänzendes.
Ein weiterer Grund ist auch und vor allem eine ausgeprägte Liebe zum Buch an sich, in einer Zeit, in der technik- und fortschrittsgläubige Freaks glauben, sie könnten via "Datenhighway" und "Cyberspace" dem altehrwürdigen Buch den Garaus bereiten. Das würde das Ende eines Kulturgutes bedeuten, das neben der Erfindung des Rades wohl zum bedeutendsten der Menschen überhaupt gehört. Gebundene Bücher hätten uns dann nur einige Jahrhunderte begleitet und gedient. In all diesen Jahrhunderten waren Künstler- und Unikatbücher stets absolute Besonderheiten, welche Zeiten, Moden und Epochen überdauerten. Auch heute sind sie seltene Zeitdokumente von eigenständiger Qualität, Zeitkonserven, mehr als nur Bücher. Sie sind dokumentiertes Lebensgefühl in ihrer Zeit, sie sind reine, dichte, unsterbliche Substanz.
Hier läge ein Anfang, etwa bei der Vergegenwärtigung mittelalterlicher Handschriften und reich bebilderter Stundenbücher, die ja bekanntlich auch "zur Ehre Gottes, des Allmächtigen" in entbehrungsvoller und leidenschaftlicher Weise geschrieben und gemalt wurden. Ich mache meinen persönlichen Anfang aber sehr viel später, nämlich 1990.
Nach mehr als 10 Jahren künstlerischer Arbeit und ebenso langer Suche nach einer eigenen schöpferischen "Sprache" verfestigt sich um 1990 ein individuelles Gefühl, das da lautete: "Ich bin ein Zeitzeuge". Die bemerkenswerten Ereignisse der Wiedervereinigung Deutschlands werden mit besonderer Intensität empfunden. Der Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs und die fortschreitende europäische Integration bestärkten dieses Empfinden. Ganz Großes war erlebbar wie ganz Kleines und umgekehrt. Ein unbeschreibliches Maß an Solidarität ließ eine Ahnung aufkommen, wie es wohl wäre, in einer besseren Welt.
Mein Weg zum Buch vollzieht sich logisch und unspektakulär. Aus einzelnen Zeichenblättern werden kleine Werkgruppen und thematisch zusammenhängende Mappen. Die Schrift im Werk ist zu jener Zeit noch nicht sichtbar.
Zur Untermauerung der Zeitzeugenschaft dient Anfang der Neunziger schlichtes Zeitungspapier mit aufgedruckten Artikeln zur Deutschen Einheit, die be- und übermalt werden, gemacht "für später" um die Zeit festzuhalten, zu dokumentieren, wenn auch nur für mich selbst, war das Gebot dieser Stunde. Die kaschierten Einzelblätter wurden zur besseren Lagerung zu Geheften verbunden. Bücher, Unikatbücher, wenn auch noch sehr einfach, waren entstanden. Und ganz von selbst, fast unmerklich war auch sie da, die Schrift. Jenes unverzichtbare Element, durch das Bücher "lesbar" und "verstehbar" werden, ein Element, das ich später, also heute, als das "Literarische" bezeichne.
Die angeführte Zufälligkeit schlägt 1992 zu Buche, mit einem Ausstellungsbesuch in Fürstenfeldbruck und einer dabei geschlossenen Bekanntschaft mit dem Sammler Reinhard Grüner. Als ob es ein Schicksal wollte, trafen sich Blicke und Worte und in den Folgejahren viele gegenseitige Besuche mit fruchtbaren Gesprächen zur Kunst allgemein und zur Buchkunst im besonderen. Diese Verbindung war wesentlich und unverzichtbar für meine Entwicklung zum "Buchkünstler". Leidenschaft und Experimentierfreude bei der Herstellung von Unikatbüchern als eigenständige künstlerische Sprache zum einen und Förderung durch den erfahrenen Fachmann kennzeichnen jene Jahre.
Dem Buch immer mehr verschrieben, entwickelte ich ab 1992 den Anspruch, dem eigenen Leben die Gestalt einer Bibliothek zu verleihen, zunächst mit dem mittelfristigen Ziel, 50 Bücher zum 50. Geburtstag gemacht zu haben.
Mit 42 Büchern zum Jahresende 2003 ist der eigene Plan voll erfüllt. Die fehlenden 8 bis 2007 werden mit Leichtigkeit zu schaffen sein, wenngleich dann keinesfalls das Ende erreicht sein wird. Weitere Ankündigungen sollen hier nicht gemacht werden, nur noch soviel, dass sich alle Besitzer von Multerer's Büchern verpflichten müssen, alle Werke für eine einzige Ausstellung - irgendwann - zur Verfügung zu stellen. Eine Bibliothek als Lebensdokument soll dann für einige Tage einem interessierten Publikum öffentlich vorgestellt werden. Und auch ich selbst will dann mit den Büchern eine gewisse Lebenszeit Revue passieren lassen.
Dieser konzeptionelle Ansatz ist eine weitere, sehr wesentliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum ich Bücher mache.

2. Welche Rolle spielt für dich der Text, wenn du an einem Künstlerbuch arbeitest?

Das Literarische, das erzählende Element, im Gewande eines Textes hat sich mittlerweile als unverzichtbarer Bestandteil meines Werkes entwickelt. Die Gedankenwelt wird mit dem Älterwerden immer abstrakter, die Rolle des Textes in Abwägung zum Bild wird immer dominanter.
Das Buch "die Zunge zwischen den Flüssen", aus dem Jahr 2003, kommt mit nur zwei gemalten Seiten aus, wenngleich darin über hundert Bilder den Text ergänzen, es sind kleinformatige Fotografien, eigenhändig für dieses Buch fotografiert und trotzdem bleibt der Text, mit Pinsel handgeschrieben, das augenfälligste Gestaltungselement des Buches. Es sind "nur" Worte, aber mit graphischer Qualität, sie sind mächtig und schwer wie das ganze Buch, das gänzlich ohne Papier auskommt. Es besteht aus alter, abgewitterter Lkw-Plane, morbid, grau, bleiern, zwar flexibel aber unverwüstlich wie eine Granitplatte, ein Gedenkstein für die Opfer des 11.09. in New York.
Das sind die Zutaten für ein Unikatbuch, ein zeitlicher Kontext, ein guter Text, verstärkt durch die Form seiner Schrift, aufgeladen mit den ihn umgebenden Bildern und transportiert durch ein Material, welches über Text und Bild hinaus, aus sich selbst heraus Informationen vermittelt, jenseits von rationalen Ebenen.
Ein Unikatbuch zeichnet sich aus, durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Ebenen seiner Erfassung, vom Künstler angelegt, die nur bei erfahrenen und für diese Ebenen empfindsamen Lesern in ganzer Breite und voller Wucht aufschlagen können. Insofern trifft in der Buchkunst jene Forderung ganz besonders zu, dass der Leser Mitgestalter und Vollender einer Idee sein muss, die ihrerseits Teil eines faszinierenden Systems ist, der Literatur.

3. Wie sollte das Verhältnis zwischen Text und Bild für dich sein?

Der Strang aus Begriffen, bestehend aus Literatur, Sprache, Inhalte, Bedeutung, Vorstellung, Text, Fiktion, Schrift, Geste, Bild, wurde unzählige Male von Literatur- und Sprachforschern beschrieben und analysiert. Ich kann dazu nur Unwesentliches ergänzen, insofern beschränke ich mich auf das meinige, auf meine Arbeitsweise und meine Intentionen.
Unter jedem Stein in Deutschland liegen hundert Geschichten und wer älter ist als 40 Jahre, hat schon eine ganze Geschichte erlebt. Diese Steine aufzuheben, sie umzudrehen, deren Geschichten zu erzählen, in einer Weise, dass sie die ganze Welt angehen, vernetzt mit der Beschreibung eines individuellen Lebensgefühls, das sind die Grundstimmungen und Motive, die in meinen Büchern umgesetzt werden. Die Bücher sind Vehikel, sie transportieren Empfindungen, dem Kontext sowohl des Augenblicks als auch der Geschichte verpflichtet, mit selbst auferlegtem Anspruch auf Wahrheit, Menschlichkeit und Achtung vor der Natur. Meine Unikatbücher stellen Fragen und geben Antworten, sie sind Rhizome und Werkzeugkisten und Sammlerobjekte ebenso wie Lebensdokument für deren Besitzer.
Am Anfang stehen reale Bilder, Zeitgeschehen, das Erlebte, banal, jedoch sich wandelnd, geradezu befruchtet und wachsend, in dem Moment, in dem sie in den Fokus der künstlerischen Bearbeitung geraten sind. Ständiges Transformieren, Transponieren, Abwägen, Aufladen, Nachfragen, Verwerfen. Bilder werden zu Vorstellung, Vorstellung zu Sprache, zu Wort, zu Text, und wieder zum Bild, um den gleichen Prozess erneut zu beginnen.
Wenn dann zur gegebenen Stunde alles passt, entsteht ausstoßartig ein Text. Es ist der Moment, in dem ich mich hinsetze und beginne es aufzuschreiben.
Nach ein bis zwei geringfügigen Überarbeitungen in den kommenden Tagen, zeitnah, aber mit dem klaren Blick der abgeklungenen Erregung, ist er gemacht, der Anfang für ein Unikatbuch; er steht mit dem Text. Der Weg zum Buch ist unwiderruflich eingeschlagen, ohne jedoch zu wissen, wohin er führt.
Jetzt schlägt die Stunde des bildenden Künstlers. Skelett, Hülle und Organe werden ausgesucht für die schon immer vorhandene, aber nun greifbar gewordene Seele.
Ausgesucht deshalb, weil die Authentizität ein Material fordert, das mehr ist, als bloßer Träger für Farbe und Schrift. Das Material muss Qualitäten haben, die es in die Lage versetzen, Emotionen zu transportieren, gleich einem Kondensator, durch den "gasförmiger Text" begreifbare präsente Materie wird, als überzeugender Sachbeweis für das Geschriebene, so wie es die Polizei dem Gericht vorlegt zur Prüfung, Würdigung und Urteilfindung.
In dieser Phase erfährt das jeweilige Buchprojekt eine massive Verlagerung vom inneren Gehalt (brain) zum äußeren Gehalt (action), indem ich mich auf den Weg mache, zu den magischen Orten meiner Umwelt, um zu schauen und zu fühlen. Die "Suchkriterien" sind irrational und nicht beschreibbar. Wohl selten trifft das bekannte Picasso-Wort: "je ne cherche pas, je trouve!" besser zu, als in dieser Phase. Ich finde, weil ich angesprochen werde von Gegenständen, die mir künden von einer Energie, einem Leben, einem Tod, einer Unsterblichkeit, die wohl nur der "Eingeweihte" verstehen kann, und ich zähle mich dazu.
So mutieren ein Stück Blech, ein altes regennasses Buch, ein Segeltuch von einem Schiff, ein amerikanischer Postsack, eine Landkarte aus einer oberbayerischen Dorfschule, ein Fußabstreifer oder Schießscheiben der Polizei von unscheinbaren Alltagsgegenständen, von Abfall, zu wahren Schätzen. Sie erzählen von Zivilisation, von deren Geschichte, deren Gebrauch und deren individueller Lebenszeit, einerseits unwichtig und unbedeutend, andererseits einmalig und wunderschön.
Es ist Kontaminierung durch erlebte Geschichte, menschlicher Fleiß, Angst und Schmerz aber auch Selbsterhöhung im Augenblick des Triumphs über sich und die Welt, - irgendwo und irgendwann vielleicht -, was den Materialien die besondere Eignung als Medium im Kunstwerk verleiht.
Sind Text und Material vorhanden, ist trotzdem erst der halbe Weg zum Künstlerbuch zurückgelegt. Bei deren Fusion, gleich einer Hochzeit, werden Regeln befolgt und gebrochen, es wird geschuftet, gescheitert, probiert und gefeiert.
Ein letztes Ringen, ein letztes Aufbäumen ist die Malerei, der intensivste und sensibelste Teil im Entstehungsprozess eines Buches. Ist nur eine von über hundert Seiten im gebundenen Buch misslungen, bedeutet dies die Zerstörung des Werkes. Der beschriebene Prozess beginnt von vorne. Einzig der Text überdauert und besteht fort in diesem Fall. Einmal geschrieben ist er unzerstörbar. Schon deshalb kann dem Text eine besondere Qualität zugeschrieben werden, wenngleich er mir ohne seine Begleiter, Bild und Material, nicht allzu viel bedeutet.
Was alleine zählt ist das Ganze, das fertige Unikatbuch, die Kombination aller Disziplinen auf allen Ebenen, die Geste des Malers, seine zu Text, zu Schrift, zum Bild, zum Buch und zum Objekt gewordene Leidenschaft und der Moment in dem sich dieses Ganze dem Leser beim Lesen erschließt.
Als Ganzes ist ein fertiges Buch seltsam ausgewogen und still. Aber es kündet dem Kenner von all diesem Ringen und Streben, und es zeigt ihm die Wege des Denkens, die Spuren seiner Entstehung, transparent und ehrlich; manchmal auch geheimnisvoll.
Der Text ist ein Faden, der ausgelegt ist für den Leser, um diesen Spuren zu folgen. Er führt verbindlich in eine Welt der menschlichen Fakten, aber er öffnet auch die Türen in eine Hinterwelt der Unverbindlichkeiten, der Potentialität, der Fiktion, er führt auf die Spuren eines Menschenlebens zwischen all seiner Pracht und den vielen Facetten seiner Unvollkommenheit.
Die Bedeutung des Textes in meinen Büchern im Verhältnis zu den Bildern kann am besten erklärt werden mit der Vorstellung seiner Abwesenheit.
Es ist ein Erfahrungswert, dass die Aneinanderreihung von Zeichnungen, von Bildern, gebunden zu einem Buch eine seelenlose Sache ist, weil das "Lesen" zum Wesen eines Buches gehört und somit wesentlich ist. Es ist nicht die Substanz, es ist die Essenz. Was wäre ein Brief ohne Worte?
So wie Bilder einen Text mit Würze ergänzen, so kann auch ein Text den Bildern eine noch wuchtigere Kraft verleihen.
Ein Buch ist wie eine Bibliothek, eine Bibliothek ist wie ein Mensch. Das Paradies ist eine immense Bibliothek und bei allem kommt es auf die Substanz und deren "Dichte" an.